Mit 200.000 Kilometer pro Sekunde gegen Krebszellen
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr!
Mit etwa 200.000 Kilometern pro Sekunde (das entspricht etwa zwei Drittel Lichtgeschwindigkeit) zirkuliert der Teilchenstrahl durch den Beschleunigungsring, passiert eine Strahlenweiche, zweigt auf eine rund 100 Meter lange Gerade ab und kann von dort in die vier Bestrahlungsräume eingeleitet werden.
Mit MedAustron, das fast baugleich mit dem Teilchenbeschleuniger des CERN in der Schweiz ist, nur eben kleiner, entsteht in Wiener Neustadt eine der modernsten Anlagen ihrer Art. Es ist weltweit erst das vierte Krebstherapiezentrum, das auf Ionentherapien setzt. Die Bestrahlung der Patientinnen und Patienten erfolgt dabei mit Kohlenstoffionen oder Protonen (die ja auch Wasserstoffionen sind). Solche Therapien werden ansonsten nur noch in Heidelberg, Japan und in Pavia bei Mailand angeboten. Noch heuer wird das Zentrum offiziell eröffnet und mit den ersten Patientenbehandlungen begonnen, seit Herbst 2014 laufen bereits die Vorbereitungen.
Vier Meter dicke Wände
Es ist eine imposante Anlage, die sich einem eröffnet, wenn man durch die verwinkelten Eingänge die Halle betritt, in der sich der Teilchenbeschleuniger, Synchrotron genannt, befindet. Nicht nur baulich abgeschottet von der Außenwelt – die Decken sind drei Meter dick, die Wände gar vier – gelangt man über eine strenge Zutrittskontrolle in die Halle. „Der Ringbeschleuniger hat einen Umfang von 80 Metern, 16 im Ring angeordnete Magnete und besteht insgesamt aus mehr als 1000 Komponenten, hergestellt von mehr als 200 Herstellern aus 23 Ländern“, erklärt der Physiker Fadmar Osmić, der den Teilchenbeschleuniger technisch maßgeblich mitentwickelt hat . „Wir haben ihn bis ins kleinste Detail hier geplant, nach unseren Vorstellungen und Wünschen“, erklärt Osmić. Stahl der Voest wurde von Österreich ins russische Novosibirsk geschafft, wo etwa am Budker-Institut für Kernphysik Magnete die Dipole gebaut wurden, die in Wiener Neustadt auf 10tel Millimeter genau ausgerichtet sind.
Penibel geplant
2012 – nach 18 Monaten – war der Bau fertig gestellt. Seither wird MedAustron eingerichtet und die technische Ausstattung installiert. Diese Feinabstimmung war/ist eine hochkomplexe Aufgabe. Die gesamte MedAustron-Anlage setzt sich aus drei Bereichen zusammen, aus dem Beschleunigerbereich, dem Therapiebereich und einem eigenen Forschungsbereich. Das Herzstück der Anlage ist der Beschleunigerring, der den Ionenstrahl erzeugt, der in die vier Behandlungsräume geleitet wird. Neben drei horizontalen und einem vertikalen Fixstrahl gibt es einen Bestrahlungsraum mit einer sogenannten „Protonengantry“ – dabei handelt es sich um eine frei bewegliche Bestrahlungseinheit, das die Bestrahlung von Patienten aus beliebigen Winkeln mit einer Genauigkeit von 0,3 mm ermöglicht. Diese Gantry hat ein Gesamtgewicht von 220 Tonnen und einen Drehdurchmesser von 7,5 Metern.
Jahrzehntelange Planung
„Zum Zeitpunkt der ersten Patientenbehandlung wird es die innovativste und modernste Anlage der Welt sein“, sagt Klaus Schneeberger, Aufsichtsratsvorsitzender von MedAustron. Das Zentrum wird im Vollbetrieb 170 Beschäftigte haben. Schneeberger hat sich seit mehr als einem Jahrzehnt für dieses Projekt eingesetzt, mit dem Hauptverband der Sozialversicherungsanstalten verhandelt, mit Versicherungen diskutiert und es geschafft, eine renommierte Forschungsstätte nach Wiener Neustadt zu bringen. „Man braucht Mut, Ausdauer und Unterstützer, denn Gegner hatten wir viele“, sagt Schneeberger. Der Standort ist mit der Nähe zur FH Wiener Neustadt, die sich auch auf medizinische Fachbereiche wie Radiologietechnologie oder Biomedizinische Analytik spezialisiert hat, ideal und lässt derzeit im Süden Niederösterreichs ein neues Hightech-Zentrum entstehen.
Robotik
Ein wesentlicher Faktor bei der Behandlung ist die exakte Positionierung der Patienten. MedAustron verfügt über ein weltweit einzigartiges Positionierungssystem: eine deckenmontierte Anlage, bei der speziell für den medizinischen Einsatz adaptierte Industrieroboter zur Anwendung kommen. Es ermöglicht, die Patienten mit einer Genauigkeit von einem halben Millimeter zum Therapiestrahl auszurichten, die exakte Positionierung während der gesamten Behandlung sicherzustellen und so die präzise Bestrahlung des Tumors durchzuführen.
Medizinischer Background
Bei der Ionentherapie kommen nicht wie bei der herkömmlichen Strahlentherapie Photonen- oder Elektronenstrahlen zum Einsatz, sondern Ionenstrahlen. „Die Energie der Ionenstrahlen kann viel besser gesteuert werden“, sagt die medizinische Leiterin, Univ. Prof. Ramona Mayer. „Zum einen wird die unerwünschte Dosis im gesunden Gewebe reduziert, zum anderen gibt es auch weniger Nebenwirkungen.“ Alle Protonen- und Ionentherapien nutzen den so genannten „Bragg-Peak-Effekt“ aus: Die Teilchen geben fast ihre gesamte Energie erst beim Abbremsen im Gewebe, kurz vor dem Stillstand, ab. Die Strahlen geben an der richtigen Stelle ihre Energie ab, das Gewebe dahinter wird geschont. So ist der Eingriff weniger schädlich als mit konventionellen Strahlentherapien.
Der Bestrahlungsplan
Vor einer Ionentherapie wird der Tumor Schicht für Schicht gescannt, um einen Bestrahlungsplan erstellen zu können. So entsteht praktisch eine 1:1-Nachbildung des Tumors und der Gegend um den Tumor. Dieser Plan ist die Basis für die Therapie, bei der die Strahlung gezielt auf die betroffenen Krebszellen erfolgt. Die Ärzte geben bekannt, welche Energie sie benötigen, die Physiker liefern die entsprechende Dosis für die Behandlungsräume.
Vor allem die Behandlung von Tumoren in der Nähe von Risikoorganen, also etwa im Schädelbasis-Bereich oder beim Rückenmark, ist das Haupteinsatzgebiet dieser Technik.
Extreme Genauigkeit
„Ein Vorteil der Ionentherapie ist, dass Ionen direkt mit der DNA in der Zelle interagieren können, es werden – trotz geringerer Dosis – deutlich größere Effekte erzielt werden“, erklärt Mayer. Bei Bestrahlungstherapien ist in der Medizin ein Strahl von maximal 5 × 5 mm Querschnitt vorgeschrieben, mit einer Genauigkeit von einem Drittel Millimeter und 50 bis 250 Energiestufen. Der MedAustron-Synchrotron liefert einen Strahl mit nur einem Millimeter Durchmesser, und 256 nterschiedlichen Energiestufen. Der Stromverbrauch kostet pro Jahr übrigens 2,5 Millionen Euro.
24.000 Behandlungen pro Jahr
Pro Jahr werden bei MedAustron im Schnitt 24.000 Einzelbehandlungen durchgeführt, jede davon dauert fünf bis sieben Minuten, mit Vor- und Nachbereitung etwa 25 Minuten. „Jeder Patient benötigt im Schnitt 20 Behandlungen“, erklärt Mayer. Pro Jahr können daher etwa 1200 maximal 1400 Patienten behandelt werden; 80 Prozent der Patienten kommen aus Österreich, 20 Prozent aus dem Rest der Welt. Eine Therapie dauert zwischen vier bis sechs Wochen und kostet zwischen 30.000 und 32.000 Euro. „Eine Behandlung kann das Dasein retten“, so die leitende Medizinerin Mayer. Wir sind aber kein Spital, es gibt auch keine Betten. Die Patienten kommen zur Behandlung zu uns.
Forschung
Freilich wird auch am MedAustron geforscht, In den „Leerzeiten“ – in der Nacht und an Wochenenden - können die Teilchenstrahlen von Wissenschaftlern genutzt werden. Der Forschungsschwerpunkt konzentriert sich auf die Bereiche klinische Forschung, Strahlenbiologie, Strahlenphysik und Experimentalphysik. Schneeberger ist überzeugt, dass sich auf Basis der nichtklinischen Forschungen im MedAustron auch Spin-Offs bilden werden.
Kommentare