Ein Ouija-Brett aus den 1890er-Jahren

Ein Ouija-Brett aus den 1890er-Jahren

© Museum of Talking Boards/Wikimedia Commons

Meinung

Die Ouija-Verschwörung: Wer zieht die Fäden der Demokratie?

Eine Demokratie ist manchmal so etwas wie ein riesengroßes Ouija-Brett.

Wer Gruselgeschichten und Geister mag, kennt vermutlich das Ouija – auch „Hexenbrett“ genannt. Angeblich kann man damit Kontakt zu Verstorbenen, Dämonen oder anderen Geistwesen aufnehmen. Eine Tafel ist mit Buchstaben und Zahlen bedruckt, darauf legt man einen Zeiger. Mehrere Menschen sitzen rundherum und berühren den Zeiger jeweils mit einem Finger.

Nun kann man, mit Beschwörungsformeln und möglichst magischem Brimborium, in übersinnlichen Kontakt mit magischen Geistwesen treten: Man stellt eine Frage und plötzlich beginnt sich der Zeiger mitsamt den Fingern zu bewegen, er steuert ein Symbol nach dem anderen an und buchstabiert eine Antwort. Niemand der Beteiligten hat das Gefühl, selbst die Ursache für die Bewegung zu sein. Alle sind davon überzeugt, ihre Finger bloß mit dem Zeiger mitzubewegen, der von irgendeiner mystischen, nicht näher erkennbaren Kraft gesteuert wird.

Aus wissenschaftlicher Sicht ist das allerdings keine große Überraschung. Der Zeiger wird durch das Zusammenwirken der beteiligten Menschen bewegt. Alle erwarten, dass ihr Finger gleich in eine bestimmte Richtung gezogen wird. Und wenn man eine Bewegung erwartet, dann passiert es leicht, dass man sie unbewusst selbst durchführt. In der Psychologie kennt man das als „Carpenter-Effekt“.

Man spürt, was die Finger der anderen tun, wird dazu unbewusst veranlasst, dieselbe Bewegung mitzumachen, was wiederum die anderen spüren – und so ergibt sich aus dem Zusammenspiel unbewusster Mikro-Bewegungen eine kollektive Gemeinschaftsbewegung, die ziemlich übersinnlich erscheint. Manchmal ist man ein Teil der Bewegung und hilft unbewusst mit, die Antwort zu produzieren, die man erwartet. Manchmal ist man bloß Passagier und wird Teil einer Antwort, die unbewusst von anderen angetrieben wird. Die These „hinter dieser Bewegung muss eine unsichtbare, bewusst agierende Hand stecken“ fühlt sich völlig glaubwürdig an – ist aber falsch.

Genau denselben Denkfehler macht man allerdings auch sehr leicht, wenn man über größere, gesellschaftliche Phänomene nachdenkt. Welche Themen kommen in den Medien vor? Warum reden plötzlich alle über das und nicht über jenes? Warum gibt es in unterschiedlichen Tageszeitungen und Fernsehsendern plötzlich vermehrt Leute, die eine ganz bestimmte Meinung vertreten?

Und auch hier liegt dann die Vermutung nahe: Da muss doch eine unsichtbare, bewusst agierende Hand dahinterstecken! Die sind doch alle gekauft! Es muss eine Verschwörung geben, eine mysteriöse Elite, die hinter den Kulissen agiert, die Fäden zieht und uns alle steuert! Das wäre prinzipiell natürlich denkbar – aber realistisch ist es nicht.

Die viel plausiblere Erklärung ist, dass sich gesellschaftliche Entwicklungen so ähnlich ergeben wie die Bewegung des Zeigers auf dem Ouija-Brett: Alle haben ein bisschen Anteil daran, aber keiner steuert. Es bewegt sich etwas, weil wir alle auf subtile Art zusammenarbeiten, oft ohne es bewusst wahrzunehmen. Die Gesellschaft bewegt sich, weil wir alle Hand anlegen, weil wir alle zusammenwirken, weil sich jeder von uns immer ein bisschen bewegt und die Gesellschaft dadurch ein kleines bisschen mitbewegt. Eine Demokratie ist manchmal so etwas wie ein riesengroßes Ouija-Brett.

Wir Menschen sind allerdings nicht besonders gut darin, solche komplexen Gemeinschaftseffekte zu erkennen. Ein unbekanntes Mastermind hinter den Kulissen ist scheinbar die einfachere Erklärung. Und so entsteht auf ganz natürliche, durchaus verständliche Weise eine politische Verschwörungstheorie.

Zugegeben: Wenn man zeigen kann, dass eine Veränderung sich durch das Zusammenspiel vieler ergeben kann, ist das noch kein Beweis dafür, dass ein zentraler Plan fehlt. Es ist noch immer denkbar, dass es hinter den Kulissen jemand die Dinge bewusst steuert. Auch beim Ouija-Brett kann es sein, dass ein oder zwei meiner Freunde den Zeiger vielleicht ganz bewusst bewegen und mich an der Nase herumführen. Das zu hinterfragen ist immer gut. Aber man soll nicht voreilig in Verschwörungstheorien abdriften, wenn es eine viel plausiblere, einfachere, logischere Erklärung gibt.

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Florian Aigner

Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen. Über Wissenschaft, Blödsinn und den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen, schreibt er regelmäßig auf futurezone.at und in der Tageszeitung KURIER.

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