Meinung

Die schönere Strecke

„Ich kenne jemanden“, sagt der Taxifahrer, „dort kann ich das machen.“ Jemanden, der einen Internetzugang hat. Dorthin geht er, wenn er eine E-Mail verschicken möchte. Der Taxifahrer ist kein Fortschrittsfeind. Er hat ein Navigationsgerät am Armaturenbrett, und nachdem er seine eigenen Vorstellungen von der Fahrtroute präsentiert hat, hört er sich wohlwollend an, was das Navi meint. Dass er eine gewisse Distanz zum Internet hält, ist seine freie Entscheidung. Vielleicht könnte er ein paar Fahrten mehr machen, wenn er zum Beispiel ein iPhone und die MyTaxi-App benutzen würde, aber es geht auch so. Er hat ein einfaches, altes Handy.

"Digital Immigrant"
Der Taxifahrer gehört zu einer nach wie vor beachtlichen Gruppe in unserer Gesellschaft, deren Mitglieder sich aus unterschiedlichen Motiven von der digitalen Welt nur wenig angezogen fühlen. Mehr als 1,7 Milliarden Menschen sind inzwischen online, statistisch jeder vierte Mensch auf diesem Planeten, davon 427 Millionen Europäer, davon wiederum etwa 5,2 Millionen Österreicher, das sind 81,1 Prozent der Bevölkerung über 16. Zugleich heißt das aber auch: Mehr als 1,2 Millionen Menschen im Lande sind offline – und damit nach Meinung mancher Enthusiasten „nicht integriert“ und „draußen“. Ihnen fehle es an Akzeptanz oder sie seien schlichtweg ignorant.

Information soll die Welt retten, das war die Hoffnung zu Beginn des Internet-Zeitalters. Und tatsächlich hat eine friedliche technologische Umwälzung in den zurückliegenden drei Jahrzehnten die Welt auf ebenso tiefgreifende wie vielfältige Weise verändert und in eine digitale Welt zu verwandeln begonnen. Ganze Branchen sind verschwunden oder im Umbruch. Es gibt keine Schriftsetzer und keine Fotolabors mehr, statt ganzer Alben verkaufen Musiker nun ihre einzelnen Tracks, und in der Marketing- und Medienwelt haben neue globale Player wie Google, Apple oder Facebook Einzug gehalten.

Der Digitalismus greift um sich
Für die IT-Industrie stellt sich in immer rascherer Folge die Frage, wie man jemandem ein paar hundert Euro aus der Tasche ziehen kann, obwohl er bereits einen oder zwei Rechner hat, ein Tablet und ein Smartphone. Die Lösung heißt: Man verkauft den Menschen keine Produkte, sondern eine Weltanschauung; Hardware und Software werden beigelegt. Die passende Weltanschauung könnte man Digitalismus nennen.

Trotzdem gibt es Menschen wie den Taxifahrer, die der Ansicht sind, dass jeder Mensch nach wie vor das Recht hat, keinen Computer besitzen zu wollen oder nicht ans Netz angeschlossen zu sein. Viele fühlen sich von dem ständigen Innovationsgesprudel nicht angeregt, wie die jungen Vielnutzer, sondern bedrängt und abgeschreckt.

Eine entscheidende Rolle bei der Anpassung des Menschen an neue Technologien spielt Zeit. Eine gewisse Gelassenheit beim Lernen. Niemand läßt sich gern panisch machen, er würde den Anschluß an die Zukunft verpassen, wenn er sich nicht augenblicklich den neuesten Satz Hardware, Software und Medientrends (Soziale Medien!) besorge. Früher gaben das Prüfen und Testen einer Erfindung genügend Zeit nicht nur zur Überwindung der ihr anhaftenden Fehler, sondern auch, um die Gemeinschaft darauf vorzubereiten – obwohl auch diese Barrieren nicht immer genügend sozialen Schutz boten, wie man an den himmelschreienden Übeln sehen konnte, die das Industriezeitalter mit sich brachte. Heute stehen wir der umgekehrten Situation gegenüber: das jeweils neueste digitale Projekt verlangt von der Gesellschaft um jeden Preis sofort übernommen zu werden. Jedes Zögern gilt als sträflich, oder als kulturelle Rückständigkeit. Der Konformitätsdruck, den die Vertreter des Digitalismus ausüben, ist hoch. Aber sind diejenigen, die sich für eine digitalen Evolution anstelle der Revolution entscheiden, tatsächlich verloren, zurückgeblieben, ignorant?

Generationenwechsel
Wir sollten alle einladen in diese neue Welt, die vielen von uns so wichtig ist. Wenn wir wollen, dass alle Menschen etwas vom technologischen Fortschritt haben, brauchen wir eine modernisierte Form der Gastfreundschaft und Technologien, die nicht nur die Early Adopters und die Vielnutzer ansprechen, sondern auch die verbleibende Menschheit. Der Generationswechsel ist in vollem Gang. „In der nächsten Generation“, sagt Web-Erfinder Tim Berners-Lee, „wird es niemanden mehr geben, der über das Netz entscheidet, ohne darüber Bescheid zu wissen.“

Ehe er losfuhr, hatte mir der Taxifahrer zwei mögliche Strecken vorgeschlagen und mich gefragt, welche er fahren solle. Ich kannte mich in der Gegend nicht aus und bat ihn, die schönere Strecke zu nehmen. Dem Navigationssystem hörten wir wie gesagt aus reiner Höflichkeit noch eine Weile zu.

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Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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