Digital Life

Das Elvis-Prinzip

Aus der Zeit, in der man noch öfter miteinander telefoniert hat, habe ich die Angewohnheit beibehalten, nicht ans Telefon zu gehen, ehe ich nicht in Ruhe fertig gefrühstückt habe. Das Nachrichtenangebot ähnelt einer digitalen Version des Zeitungstisches in einem guten Kaffeehaus – die überregionale deutschsprachige Tages- und Wochenpresse, Tagesschau online, ein paar internationale Zeitungen, Fachpresse (diverse). Dann die, naja, Müllsortierbänder der sozialen Medien, namentlich Twitter, Facebook und Google+. Und dann Neues aus etwa 600 Blogs, deren Qualität sich mir im Lauf der Jahre auskristallisiert hat oder die ich andernfalls wieder aus meinem Newsreader werfe. Da ich nicht täglich 600 Blogs lesen kann, habe ich kleinere Wolken aus Favoriten und Themen zusammengestellt, die ich im Wechsel, je nach Arbeitsstreß, durchgrabe oder überfliege.

Digitale Landwirtschaft
Dass der Schriftsteller bereits direkt nach der Morgentoilette und noch ungefrühstückt an der Arbeit ist, zeigt, wie ambivalent das moderne freiberufliche Dasein ist. Es ist einerseits eine ganzheitliche Lebensweise, man führt ein Leben wie ein Landwirt. An ein und demselben Ort wird gewohnt, gelebt, gearbeitet und gefeiert. Die vermeintliche Bequemlichkeit, seinen Arbeitsplatz nur wenige Meter entfernt zu haben und nicht durch Schnee, Regen und Parkplatzssuchärger hindurch zu müssen, führt dazu, dass die Arbeit schnell und umstandslos beginnt.

Die eigene Zeit
Eine Freundin hat mir von einem Entwicklungshilfeprojekt in einem afrikanischen Dorf erzählt. Die Frauen waren täglich zwei Stunden zu Fuß unterwegs, um Wasser aus einer Wasserstelle zu holen. Die europäischen Entwicklungshelfer sahen ihre vordringliche Aufgabe darin, den Frauen die schwere Arbeit zu erleichtern und legten einen Brunnen direkt im Dorf an. Die Frauen waren aber alles andere als glücklich mit der Neuerung. Ihnen waren die zwei Stunden Freiraum genommen, der gemeinsame Gang zum Wasser mit den anderen Frauen und die während dieser Arbeit geführten Gespräche. Diese Zeit hatte nur ihnen gehört.

Immer mehr Mikroentscheidungen
Während ich mir die Materialfülle im Netz in den Sinn wehen lasse, treffe ich ständig Mikroentscheidungen, die ich früher nicht treffen musste und die der Grund dafür sind, dass sich die digitalen Ströme manchmal mühsam anfühlen, wie eine Trimmradfahrt mit angezogener Bremse. Was soll mit einem Text, den ich gerade gelesen habe, geschehen? Ins Handarchiv auf der Festplatte? An jemanden weiterleiten, von dem ich annehme, dass es ihn interessiert? Nur lesen und merken? Lesen und vergessen? Auf`s Desktop legen und später lesen? (Jemand mit Sinn für Ironie hat den entsprechenden Ordner auf seinem Rechner mit „Gorleben" benannt).

Medienmüllsortierung
Währenddessen verteile ich die ersten Links auf Blog-Fundstücke vom Vortag von Hand auf Facebook und Google+, lese die Reaktionen auf Zurückliegendes und schreibe gegebenenfalls Antworten auf Kommentare, auch in meinem Blog. Das Schreiben verteilt sich in immer atomisierteren Formen, wie Sprühnebel. Ich benutze die kurzen Formen, allen voran Twitter mit seinem Limit von 140 Zeichen als dichterisches Krafttraining. Das Bonmot, der Haiku, die lakonische Bemerkung – Sprachminiaturen kommen nun wieder groß raus. Während ich Kaffee und Text frühstücke, hab ich eine Reihe von Detektoren in Betrieb: Könnte dieser Satz, dieser Absatz, diese Betrachtungsweise der Treibstoff für eine Kolumne sein? Wäre dieses Bild, diese Collage ein Kandidat für die ausgewählten Netzfundstücke, die ich in meinem Blog veröffentliche (und die danach noch codiert und oft mit etwas Zusatzinformation angreichert werden)? Grundlage meines Handelns im Netz ist etwas, das ich das Elvis-Prinzip nenne: It`s now or never.

In interessanten Zeiten
Ich könnte diese Alltagsbeschreibung über den ganzen Tag fortführen, aber es würde sich nicht grundlegend viel ändern. In der neuen digitalen Vielfalt an Möglichkeiten liegt zugleich auch das Problem, dass der Tag nur 24 Stunden hat und ich gern mehr von dem vielen Neuen lesen und sehen möchte, die kulturellen Einheiten gezwungener Maßen mehr und kürzer werden. Das wiederum führt dazu, dass längere, umfangreichere Projekte auf merkwürdige Weise schwieriger werden. Der Arbeitsfortlauf wird durch die immer neuen, attraktiven Abzweigungen perforiert. Aber so ist das eben, wenn man in interessanten Zeiten lebt.

Etliche der profanen Dinge, die zum Schriftstellersein gehören, nimmt meine Frau mir ab. Wir versuchen, ein gutes Team abzugeben. Ich schaffe im Buchstabenbergwerk Bedeutungen ran, sie hält mir die Buchhaltung vom Hals. Arbeitsbesprechnungen enden meist in einem wunderbaren Essen, denn dichten kann man nicht nur mit Worten, sondern auch mit Kartoffeln, Perlhuhn und Kräutern von der Fensterbank. Man will ja auch leben und nicht nur die Arbyte tun.

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Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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