Meinung

Pandemie und Synchronschwimmen

Was ist der Unterschied zwischen Seilziehen und Synchronschwimmen? Beides macht man im Team, und in beiden Fällen kann das Team nur gewinnen, wenn sich jedes einzelne Teammitglied ordentlich anstrengt.

Trotzdem sind das zwei grundverschiedene Dinge: Die Art der Kooperation ist eine völlig andere. Beim Seilziehen übt jede Person eine bestimmte Kraft aus, die Kräfte addieren sich. Je größer die Gesamtkraft, umso größer der Erfolg.

Beim Synchronschwimmen ist die Sache komplizierter: Da geht es um Bewegungen, die aufeinander abgestimmt sind, die zueinander passen, die nur gemeinsam Sinn ergeben. Wenn man die besten und kräftigsten Seilzieh-Profis der Welt zu einem Team vereint, ist dieses Team ziemlich unschlagbar. Wenn man im Synchronschwimmen ein Star-Ensemble zusammenwürfelt, wird es ohne vorheriges Training  zweifellos verlieren, weil niemand im Team weiß, was nun eigentlich zu tun ist.

Seilzieh-Aufgaben und Synchronschwimm-Aufgaben

Offensichtlich gibt es unterschiedliche Sorten von Aufgaben: Solche, bei denen individuelle Anstrengung zum Ziel führt, und solche, wo ein gemeinsames Ziel nur durch gut überlegte Kooperation zu erreichen ist.

Wenn wir zum Beispiel die Zahl der Karies-Fälle im Land reduzieren wollen, kann man das auf individueller Ebene regeln: Jeder putzt seine eigenen Zähne. Für meine Zähne bin ich ganz alleine verantwortlich, ob der Nachbar seine Zähne auch putzt, hat auf meine Zähne keine Auswirkungen. Jeder hat etwas davon, sich persönlich anzustrengen, und wenn sich alle anstrengen, wird am Ende das Ziel erreicht – wie beim Seilziehen.

Eine Pandemie hingegen gehört zur anderen Sorte: Ob ich gesund bleibe, hängt nicht nur von meinem Verhalten ab, sondern auch vom Verhalten aller anderen Leute. Hier brauchen wir eine gemeinsame Strategie – wie beim Synchronschwimmen. Schon rein mathematisch kann man die Ausbreitung der Pandemie nur auf Gemeinschaftsebene beschreiben, und ihre wahre Gefahr liegt in gesellschaftlichen Kipp-Punkten, etwa dem Zusammenbruch des Gesundheitssystems. Wer da bloß „Eigenverantwortung“ einfordert und meint, die Pandemie könne man besiegen, indem sich einfach alle ganz persönlich ein bisschen anstrengen, hat die Natur des Problems nicht verstanden.

Kooperation bringt allen was

Das Konzept der Kooperation lernt man eigentlich schon im Kindergarten: Manchmal ist es für alle am besten, wenn sich alle an bestimmte Regeln halten – auch wenn es für jeden Einzelnen vielleicht angenehmer wäre, sich als Einziger nicht an die Regeln zu halten. Manchmal können wir große Ziele nur erreichen, wenn wir uns zunächst gemeinsam auf eine Strategie einigen.

Dieses Phänomen ist so allgegenwärtig, dass es eigentlich banal ist: Wir können kein öffentliches Verkehrsnetz errichten, indem wir alle Leute auffordern, einfach eigenverantwortlich ein paar Meter Straßenbahnschiene zu legen. Wir bekommen kein Justizsystem, wenn wir bloß dazu mahnen, dass bitte jeder ganz eigenverantwortlich ein paar Gesetze verfassen und ein paar Urteile sprechen soll. Aber bei der Pandemie glauben wir nach zwei Jahren immer noch, mit bloßer Eigenverantwortung kämen wir ans Ziel?

Wir Menschen sind Gemeinschaftswesen. Das sind Heringe, Schwalben oder Heuschrecken aber auch. Was unserer Spezies so großen Erfolg beschert hat, ist die komplexe Art unser Kooperation: Wir können auf geplante, durchdachte, strategische Weise miteinander ein Ziel verfolgen. Das ist unsere Kernkompetenz. Gerade in einer Pandemie sollten wir uns darauf besinnen.

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Florian Aigner

Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen. Über Wissenschaft, Blödsinn und den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen, schreibt er regelmäßig auf futurezone.at und in der Tageszeitung KURIER.

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