Meinung

Der europäische Überlegenheits-Mythos

Es hätte ein Triumph westlicher Technologie werden sollen: Im Jahr 1793 erreichte der britische Gesandte George Macartney den chinesischen Kaiserhof. Man hatte die eindrucksvollsten Erzeugnisse mitgebracht, die man zu bieten hatte: Textilien, Waffen, mechanische Geräte. Man wollte den chinesischen Hof damit beeindrucken und dazu bringen, den Handel mit Großbritannien auszubauen.

Doch die Antwort war ernüchternd: Kaiser Quianlong war unbeeindruckt. China habe alles Nötige im Überfluss, meinte er. Man habe es nicht nötig, mit Barbaren aus Europa Geschäfte zu machen.

Das war unklug und arrogant. Von einigen britischen Erzeugnissen hätte China sicher profitieren können. Doch das chinesische Selbstbewusstsein war durchaus angebracht: Man war technisch eine Weltmacht. Und das war nicht neu: Schon 100 Jahre zuvor hatte der deutsche Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz davor gewarnt, dass man in Europa „bald auf jedem anerkennenswerten Gebiet den Chinesen unterlegen sein“ werde.

Europa: Erst Aufstieg, dann Selbstüberschätzung

Es kam anders: China geriet in eine Krise, die industrielle Revolution katapultierte Europa nach vorn, die Wissenschaft erblühte, Europa und die USA feierten grandiose Erfolge – von der Medizin bis zur Weltraumfahrt. Das scheint sich in unserem kollektiven Selbstbewusstsein eingebrannt zu haben: Wir leben in Europa, und Europa ist doch unzweifelhaft an der Weltspitze, wenn es um Wissenschaft und Technik geht! Fast wie ein Naturgesetz wird das betrachtet. Über die Möglichkeit, technologisch überholt und abgehängt zu werden, denkt man nicht einmal nach.

Das ist aber ebenso falsch wie damals die Überheblichkeit des Kaisers Quianlong: Denn längst hat Europa den Spitzenplatz in vielen Bereichen verloren. Unsere Mikrochips kommen aus Taiwan, die PV-Anlagen aus China – und unsere Autos demnächst oft wohl auch. 

Manche Leute versuchen, sich trotzdem noch eine westliche Überlegenheit herbeizureden: In Asien werde doch nur europäische Technologie kopiert, heißt es dann. Das seien keine Qualitätsprodukte, nur China-Ramsch. Überhaupt seien Diktaturen wie China oder Vietnam gar nicht in der Lage, kritisches, wissenschaftliches Denken hervorzubringen.

Nur ist das alles längst nicht mehr wahr. Nicht einmal in forschungsintensiven Bereichen wie der Entwicklung neuer Batterietechnologie gibt Europa den Ton an. Bei der Künstlichen Intelligenz versucht man erst gar nicht, vorne mitzuspielen. Es mag schon sein, dass Europa bei den Nobelpreis-Statistiken noch ziemlich gut dasteht – aber das spiegelt bloß eine historische Überlegenheit wider, die längst ins Wanken gekommen ist. Wir benennen Straßen und Plätze nach alten toten Forschern, andere entwickeln billige Leuchtdioden, bauen Hochgeschwindigkeits-Schienennetze und landen auf dem Mond.

Mit Mut wäre viel möglich

Ähnlich merkwürdig wie Europas unerschütterliche Überzeugung, immer noch ganz vorn zu sein, ist aber auch Europas unerschütterlicher Pessimismus, keinen Umschwung schaffen zu können. Man erkennt die eigene Unterlegenheit in der Elektromobilität – und anstatt eine Wende anzustreben, spricht man von der „Weltmarktführerschaft beim Verbrennungsmotor“. Man erkennt, dass die europäische PV-Industrie abgehängt wurde – und anstatt wieder an die Spitze kommen zu wollen, findet man Ausreden, warum das mit der Energiewende ja ohnehin niemals klappen kann. Man verkommt im Vergleich zu Ostasien zum Eisenbahn-Entwicklungsland – aber anstatt eine wagemutige europäische Hochgeschwindigkeits-Bahninitiative zu starten, fördert man weiterhin Kerosin verbrennende Flugzeuge.

Warum soll man sich die Technologieführung in bestimmten Bereichen nicht zurückholen können? Eine Kultur von Demokratie und kritischem Denken mag tatsächlich ein Vorteil sein, wenn es um technologische Kreativität geht. Wir haben Bildungs- und Wissenschaftssysteme, die sicher nicht perfekt sind, auf denen man aber aufbauen könnte. 

Mit ein bisschen Mut, mit echtem Einsatz für Forschung und Bildung könnte man Großes erreichen. Technologieführerschaft ist immer eng mit Wohlstand verknüpft – das lehrt die Geschichte. Und gerade die Episode von Kaiser Quianlong lehrt uns: Wo die Technologieführerschaft zu Hause ist, das ändert sich eben im Lauf der Zeit. Nur wer von anderen lernt und sich ständig verbessert, wird in ein paar Jahrzehnten noch vorne mitspielen.

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Florian Aigner

Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen. Über Wissenschaft, Blödsinn und den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen, schreibt er regelmäßig auf futurezone.at und in der Tageszeitung KURIER.

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