© Screenshot, Guardian Datablog

Medien

Datenjournalismus: "Die ganze Welt besteht aus Daten"

"Die ganze Welt besteht aus Daten", sagt Mona Chalabi. Selbst Politikerreden könnten statistisch aufgegliedert und in tabellarische Form gebracht werden, erläutert die Datenjournalistin, die als eine von zwei Redakteuren für das Datablog bei der britischen Tageszeitung "The Guardian" zuständig ist.

Der 2009 gegründete Online-Kanal, der das Motto "Facts are sacred" (Fakten sind heilig) in der Unterzeile führt, ist wohl das beste Argument dafür, dass das Geschichtenerzählen mit Zahlen und Tabellen spannend und aufregend sein kann. Geboten werden interaktive Grafiken, Videoanimationen und Erläuterungen zu Statistiken zum Tagesgeschehen oder aus dem Alltag. Wie sich Rothaarige auf europäische Länder verteilen ist dabei ebenso Thema wie der Koffeingehalt von Getränken und Speisen und die Internet-Überwachung durch den US-Geheimdienst NSA.

"Wir stellen die Dinge in einen Zusammenhang" sagt Chalabi, die vergangene Woche in Graz und Wien zu Gast war, wo sie auf Einladung der Fachhochschule Joanneum und der Wiener School of Data erläuterte, wie Datenjournalismus die Nachrichten verändert. Die futurezone hat mit Chalabi über die Aufbereitung von Daten und Tabellenkalkulationsprogramme und die Schönheit von Zahlen gesprochen.

futurezone: Sie arbeiten beim Guardian Datablog, was machen Sie genau?
Mona Chalabi: Wir sehen uns entweder Statisitiken an, schreiben Geschichten darüber und visualisieren die Daten. Oft kommen aber auch andere Redaktionen zu uns und wollen Zahlen zu ihren Stories. Wenn etwa ein Verbrechen passiert ist oder es eine Naturkatastrophe gab, dann liefern wir Zahlen und stellen diese Dinge in einen Zusammenhang.

Wo liegen die Unterschiede zwischen Datenjournalismus und mehr traditionellen Formen von Journalismus?
Unsere Art des Journalismus ist offener. Jeder kann auf unsere Quellen zugreifen und sich die Zahlen ansehen. Wir stellen sie zum Download bereit. Unsere Leser können sie nutzen. Journalistische Texte haben üblicherweise eine bestimmte Struktur, unsere Artikel sind weniger formelhaft. Wir schreiben ein bisschen objektiver und dialogorientierter. Der "normale" Journalismus versucht menschliche Aspekte eines Themas zu verstehen und zu veranschaulichen, wir interessieren uns mehr für die großen Zusammenhänge, die große Geschichte dahinter. Unsere Art des Journalismus ist auch weniger kontrovers. Viele Kommentare, die unter unseren Artikeln gepostet werden beziehen sich auf die Zahlen und nicht auf die Philosophie dahinter.

Wie wichtig ist der Austausch mit den Lesern?
Sehr wichtig, weil es uns ermöglicht, unsere Arbeit besser zu machen. Wenn uns Leser in den Kommentaren oder per E-Mail auf Fehler hinweisen, überarbeiten wir die Zahlen. Wir erfahren so auch was die Leute wirklich interessiert. Wenn wir etwa einen Artikel über Militärausgaben veröffentlichen und bemerken, dass die Leute vor allem an Zahlen zur Marine oder zur Friedenserhaltung interessiert sind, dann veröffentlichen wir einen Artikel, der sich nur mit diesen spezifischen Zahlen beschäftigt. Der Austausch mit den Lesern ist das Um und Auf. Wenn es ihn nicht gebe, wüssten wir nicht, ob unsere Arbeit überhaupt für irgendjemanden von Bedeutung ist.

Woher bekommen Sie die Daten?
Wir beschäftigen uns sehr viel mit Daten, die von der britischen Regierung oder anderen Stellen, etwa der UNO oder der OECD freigegeben werden. In gewisser Weise sind wir Kuratoren von Daten. Es geht auch um Werte. Ich würde nie behaupten, dass Datenjournalismus nur objektiv ist. Wenn Sie Daten auswählen, treffen Sie eine Entscheidung. Sie bestimmen was wichtig ist. Auch deshalb ist der Austausch mit den Lesern wichtig. Denn sie können uns sagen, ob sie mit unserer Auswahl einverstanden sind. Wir wollen das wissen. Wir wollen unseren Lesern auch die Möglichkeit geben, ihre eigenen Schlüsse aus den Daten zu ziehen.

Vor kurzem haben sie eine Videoanimation veröffentlicht, in der Fakten und Zahlen aus den Enthüllungen von Edward Snowden zur US-Internet-Überwachung präsentiert wurden. DIe Zahl der Toten nach Bienen- oder Wespenstichen ist fast genauso hoch wie die Zahl der Terroropfen. Wie sieht die Arbeit an einer solchen Animation aus?
Das war sehr schwierig. Wir bekamen den Auftrag für eine Visualisierung der Enthüllungen über die NSA (Anm.: National Security Agency, US-Geheimdienst) und ihr britisches Pendant, den GCHQ. Wir wollten herausfinden, ob Überwachungsmaßnahmen der Geheimdienste in einem Verhältnis zum Sicherheitsrisiko stehen. Dazu haben wir auf eine Reihe von Quellen zurückgegriffen, neben Informationen der Regierung waren es auch Umfragen und Forschungsergebnisse, etwa aus dem Bereich der Psychologie des Terrorismus. Das war für mich sehr interessant.

Wie wählen Sie eigentlich Ihre Themen aus?
Wir orientieren uns an drei Dingen. Zum einen ist das die Nachrichtenlage. Wenn es etwa einen Korruptionsskandal gibt, versuchen wir die Zahlen dahinter bereitzustellen. Wir wollen uns auch mit Zahlen beschäftigen, die einen Bezug zum Alltag unserer Leser haben. Ein Beispiel dafür, ist eine Geschichte zum Koffeingehalt von Getränken und Nahrungsmitteln, die wir vor kurzem veröffentlicht haben. Wenn die Regierung neue Daten und Zahlen freigibt, ist das für uns auch ein Thema.

Welche Geschichten werden am häufigsten gelesen?
Es sind entweder wichtige politische Fragen, wie etwa die Immigration oder Gesundheits- und Sozialausgaben, oder leichte, fast alberne Geschichten, wie etwa ein Artikel über den Anteil von Rothaarigen in verschiedenen Ländern Europas. Wir haben eine Grafik publiziert, die im Internet die Runde machte und wollten dazu die Haarfarbe unserer Leser und ihren Wohnort erheben. Mehr als 20.000 Nutzer haben uns dazu ihre Daten zur Verfügung gestellt.

Wie verändert der Datenjournalismus die Nachrichten?
Er macht sie schöner und visuell ansprechender, wegen der schönen Infografiken. Er macht sie auch demokratischer, weil die Leute sich damit auseinandersetzen und auch artikulieren können, wie sie zu den Dingen stehen. Datenjournalismus macht die Nachrichten auch vorausblickender. Nachrichten sind sehr auf vergangene oder gegenwärtige Ereignisse fixiert. Mit Daten lassen sich aber auch zukünftige Trends voraussagen.

In Großbritannien und den USA, aber zunehmend auch in anderen Ländern, werden öffentliche Verwaltungsdaten zur Weiterverwendung als Open Data freigegeben. Haben diese Daten dabei geholfen den Datenjournalismus zu etablieren?
Für uns sind diese Daten sehr wichtig. Wir verwenden 60 Prozent unsere Zeit, um sie zu analysieren und aufzuarbeiten. Ohne diese Daten würden sich unsere Recherchen weit schwieriger gestalten.

Die Daten werden in maschinenlesbarer Form veröffentlicht. Viele Leute können damit nichts anfangen. Wie wichtig sind Kenntnisse und Fähigkeiten im Umgang mit diesen Daten für Bürger?
Diese Daten betreffen jeden einzelnen Teil unseres Lebens. Es heißt immer, dass Leute sich mit Finanzen auskennen sollen, damit sie ihren Alltag in den Griff bekommen. Das nützt ihnen aber nichts, wenn sie nicht wissen, wie viel sie verdienen sollten, weil sie keine Daten interpretieren können. Sie müssen in der Lage sein, das große Bild zu sehen und Zusammenhänge zu erkennen. Kenntnisse im Umgang mit Daten helfen dabei, zu verstehen, was passiert und schaffen so auch Verständnis für soziale Gerechtigkeit. Sie helfen auch bei der Wahlentscheidung.

Welche Werkzeuge empfehlen Sie, wenn es um das Verstehen und Visualisieren von Daten geht?
Es gibt eine Reihe von guten Tools, wenn es um die Visualisierung geht. Zum Beispiel Datawrapper oder Google Fusion Tables, um nur die bekanntesten zu nennen. Wenn es darum geht, Daten zu verstehen, sind Excel oder Google Spreadsheets grundlegende Anwendungen. Verwenden Sie Excel?

Vor Excel habe ich Angst.
Excel ist nicht Ihr Feind.

Können Sie mir ein Beispiel nennen, das den Wert von Datenjournalismus veranschaulicht?
Wir haben in Großbritannien einen rechtsgerichteten Politiker, der Nigel Farage heißt. Auf der jährlichen Konferenz seiner Partei, der UKIP, sagte er, dass es im vergangenen Jahr so viele Immigranten wie noch nie zuvor gab. Wir konnten seine Aussage sehr schnell widerlegen. Fünf Minuten später haben wir unseren Artikel mit den tatsächlichen Zahlen zur Immigration in Großbritannien veröffentlicht. Das bedeutet, dass Politiker nicht mehr so einfach Dinge behaupten können, die faktisch falsch sind.

“Leute mit Zahlen informieren", so definiert Mona Chalabi Datenjournalismus. Neu sei diese Form des Journalismus keinesfalls, sagt die Guardian-Journalistin, die auch schon für die Bank of England und Transparency International gearbeitet hat. Der Guardian habe schon im Jahr seiner Gründung, 1821, mit tabellarisch gegliederten Ziffern gearbeitet. Auch Datenvisualisierungen seien im 19. Jahrhundert in Zeitungen bereits weit verbreitet gewesen.

"Neu sind die Mittel, die Datenjournalisten heute zur Verfügung stehen", meint Chalabi. Daten stünden in vielen Fällen in maschinenlesbarer Form zur Verfügung und könnten mit Hilfe von Software aufbereitet werden.

Hat dir der Artikel gefallen? Jetzt teilen!

Patrick Dax

pdax

Kommt aus dem Team der “alten” ORF-Futurezone. Beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Innovationen, Start-ups, Urheberrecht, Netzpolitik und Medien. Kinder und Tiere behandelt er gut.

mehr lesen
Patrick Dax

Kommentare