Das große Geschäft mit Yin und Yang
Traditionelle chinesische Medizin ist eine tolle Sache. Sie hat bloß drei Probleme: Sie ist nicht unbedingt chinesisch, sie ist nicht besonders traditionell, und sie ist keine Medizin.
Der Reiz des Exotischen lässt sich zu Geld machen, das weiß man in Europa schon lange. Was aber heute bei uns als „traditionelle chinesische Medizin“ (kurz: TCM) verkauft wird, hat mit China oft recht wenig zu tun: Die Gäste im Hotel werden ein bisschen mit Räucherstäbchen bedüftelt, und schon kann man mit „TCM-Wellness“ werben. In der Apotheke mit „TCM-Philosophie“ kann man Schüßler-Salze kaufen – eine ebenso nutzlose wie westliche Erfindung. Wenn die Tierärztin Akupunktur für Meerschweinchen anbietet, dann hat das wohl mehr mit Marketing zu tun als mit den Grundlagen einer alten östlichen Tradition.
In den 1960er-Jahren wurde von Mao Zedong und seiner kommunistischen Partei mit blutiger Härte die „Kulturrevolution“ über das Land gepeitscht. Viele Intellektuelle, unter ihnen zahlreiche Ärzte, wurden verhaftet oder getötet. Um zumindest den Anschein einer flächendeckenden Gesundheitsversorgung wahren zu können, gruben die angeblich so vorwärtsgewandten Reformer tot geglaubte Ideen wieder aus und stückelten sie neu zusammen. In hastigen Schnellverfahren wurden massenhaft TCM-Ärzte ausgebildet. Erst seit dieser Zeit spricht man von „traditioneller chinesischer Medizin“. Sie beinhaltet bei Weitem nicht die gesamte, jahrtausendealte Tradition chinesischer Heilkunde, sie ist eine eher beliebige Kombination ausgewählter überlieferter Elemente mit neuen westlichen Ideen.
Vieles von dem, was heute in Europa als TCM in die biologisch abbaubaren Einkaufstaschen alternativer Besserverdiener wandert, basiert also entweder auf Mao Zedong und seiner Kulturrevolution, oder auf westlicher New-Age-Esoterik. Die gesamte TCM darauf zu reduzieren, wäre aber natürlich unfair. Tatsächlich gibt es Elemente der modernen TCM-Lehre, die in uralten Traditionen wurzeln. Doch nur weil etwas alte Wurzeln hat, muss es noch lange nicht wahr, nützlich und heilsam sein.
Was in China über viele Jahrhunderte tradiert wurde, ist in erster Linie eine Naturheilkunde, umrankt von spirituellen Ideen. Tausende Präparate werden verwendet, manche von ihnen haben zweifellos eine Wirkung. So wurde der Medizinnobelpreis 2015 an Tu Youyou vergeben. Ihr war es gelungen, einen Wirkstoff gegen Malaria aus einer traditionellen Heilpflanze zu isolieren und zu verbessern. Doch das gelang ihr eben gerade deshalb, weil sie sich nicht auf alte Schriften verließ, sondern mit modernen wissenschaftlichen Methoden arbeitete. Das ist ziemlich genau das Gegenteil von dem, was uns heute als TCM verkauft wird.
Neben echten Heilpflanzen kennt die chinesische Heilkunde auch viele nutzlose oder gefährliche Präparate. Seltene Tiere werden sinnlos getötet, um zu wirkungsloser Scheinmedizin verarbeitet zu werden - Tigerpenis oder Rhinozeroshorn sollen angeblich die Potenz steigern. Auch allerlei Merkwürdiges aus dem menschlichen Körper kommt in den tradierten Lehrbüchern vor, vom Schamhaar bis zu getrockneter Plazenta. Weniger eklig, aber gesundheitlich äußerst bedenklich können unkontrolliert importierte Heilkräuter sein, vorbeigeschleust an gesetzlichen Vorschriften. Wer pharmakologisch wirksame Kräutertees von exotischen Versandhändlern bezieht, riskiert folgenschwere Verwechslungen. Manchmal sind die Kräuter auch mit bedenklichen Mengen an Schwermetallen oder anderen schädlichen Substanzen belastet.
Die chinesische Medizin reicht tief in ein Zeitalter zurück, in dem man weder biologische Zellen kannte noch chemische Reaktionen erklären konnte, in der die wissenschaftliche Methode noch nicht entwickelt war, in der es noch keine Grenzziehung zwischen Philosophie, Medizin und Naturwissenschaft gab.
Konzepte wie das Qi, das als Lebensenergie entlang geheimnisvoller Meridiane durch unseren Körper fließt, oder die Idee der einander ergänzenden Gegensätze Yin und das Yang haben eine wichtige kulturgeschichtliche Bedeutung, vergleichbar vielleicht mit der europäischen Temperamentenlehre. Eine überprüfbare Basis in der physischen Welt haben sie nicht. Man kann sie schön, nützlich und philosophisch wertvoll finden. Das heißt aber nicht, dass man mit solchen Konzepten jemanden heilen kann.
Unsere Medizin hat einen gewaltigen Aufschwung erlebt, weil sie Traditionen aufgebrochen und durch wissenschaftliches Analysieren ersetzt hat. Selbstverständlich hat man das auch in China längst erkannt. Aber im europäischen Esoterik-Markt ist es natürlich besser fürs Geschäft, wenn man sich auf uralte, angeblich unveränderliche Traditionen beruft. In teuren Seminaren kann man sich in Mitteleuropa in ein paar Unterrichtseinheiten zum TCM-Ernährungsexperten ausbilden lassen – mit chinesischer Kultur hat das dann wohl ähnlich viel zu tun wie Currywurst mit indischer Küche.
Wir sollten die chinesischen Traditionen genauso betrachten wie Ideen unserer europäischen Antike: mit Wertschätzung und philosophischem Interesse. Sicher findet man dort interessante Ideen, die auch heute noch nützlich sein können. Doch es wäre dumm zu glauben, eine Heilkunde aus vorwissenschaftlicher Zeit könnte eine ebenbürtige Alternative zur wissenschaftlichen Medizin sein.