Der Dämon und der Zufall
Der Zufall ist ein merkwürdiges Phänomen. Jeden Tag wirbelt er unsere Pläne durcheinander, aber es ist gar nicht einfach, genau zu definieren was Zufall eigentlich bedeutet. Wenn ich Spielkarten gut durchmische und eine von ihnen aufdecke, dann erscheint es meinen Mitspielern ziemlich zufällig, welche Karte nun auf dem Tisch liegt. Wenn ich aber ein fingerfertiger Trickbetrüger bin, dann wusste ich vielleicht schon vorher ganz genau, welche Karte ich aufschlagen würde. Ob etwas zufällig aussieht oder nicht, hängt oft davon ab, welche Information man zur Verfügung hat.
In unseren beschränkten Kopf passt leider nur eine endliche Menge an Information – aber was wäre, wenn ein übernatürliches Wesen einfach alles wüsste, was es über die Welt zu wissen gibt? Gäbe es für dieses Wesen dann noch so etwas wie Zufall?
Der Dämon kennt keinen Zufall
Ein solches hypothetisches Wesen bezeichnet man als „ Laplace’schen Dämon“, nach dem französischen Philosophen Pierre-Simon Laplace, der ausführlich über solche Fragen nachdachte. Der Laplace’sche Dämon kennt jedes Objekt im Universum, von den Kohlenstoffatomen in meinem Fingernagel bis zum entferntesten intergalaktischen Staubkörnchen. Und er kennt die Naturgesetze, denen all diese Objekte gehorchen müssen.
Für so einen Dämon, davon war Laplace überzeugt, kann es keinen Zufall geben. Er könnte die Zukunft glasklar vorhersehen. Aus dem momentanen Zustand der Welt ergibt sich zwingend der nächste, wie Zahnräder in einem Uhrwerk beeinflussen sich alle Objekte des Universums gegenseitig und bestimmen in einem kolossalen Mechanismus aus Ursachen und Wirkungen, was in Zukunft zu geschehen hat. Vom Urknall bis zum Ende des Universums – jeder Zeitpunkt wäre für so einen Dämon vollkommen eindeutig vorgegeben, das Schicksal der Welt ließe sich für ihn exakt vorherberechnen.
Auf diese Weise betrachteten viele Wissenschaftler bis ins zwanzigste Jahrhundert die Welt - als ordentliche, fehlerlos ratternde Maschine, die prinzipiell vorhersagbar und berechenbar ist. Doch ganz so einfach ist die Sache nicht. Die moderne Physik hat uns gezeigt, dass es ganz fundamentale Grenzen der Vorhersagbarkeit gibt.
Der Zufall schlägt zurück
Die Chaostheorie stellt den Laplace’schen Dämon vor ein ernstes Problem: Sie sagt, dass winzig kleine Fehler riesengroße Auswirkungen haben können. Ob ein Schmetterling in Brasilien friedlich auf seiner Blume sitzenbleibt oder lieber fortfliegt und mit seinen Flügeln die Luft ein kleines bisschen durchwirbelt, kann letzten Endes darüber entscheiden, ob es nächstes Jahr am 14. Mai in Florida einen Wirbelsturm geben wird oder nicht.
Normalerweise gehen wir davon aus, dass kleine Fehler keine große Rolle spielen: Wenn ich an der Ampel ein kleines bisschen zu spät bremse, dann lande ich deshalb nicht spontan im Südpazifik, und wenn ich beim Kochen eine Messerspitze Salz zu viel erwische, wird dadurch aus meinem Hühnercurry nicht plötzlich ein Tennisball. Aber die Chaostheorie sagt, dass viele Dinge – wie etwa das Wetter – selbst von winzigsten Faktoren ganz dramatisch beeinflusst werden können. Sie sind daher praktisch nicht vorherzuberechnen und völlig zufällig. Der Laplace’sche Dämon müsste mit unendlicher Genauigkeit arbeiten, sonst ist all seine Arbeit völlig umsonst.
Fast noch schlimmer für den Laplace’schen Dämon ist die Quantenphysik: Die sagt nämlich, dass gewisse Messergebnisse völlig vom Zufall bestimmt werden. Auch wenn man alles über ein Uran-Atom weiß, was es zu wissen gibt – man kann trotzdem nicht vorhersagen, ob es morgen zerfallen wird oder nicht. Albert Einstein fand diese Idee unsinnig: „Gott würfelt nicht!“ behauptete er. „Hören Sie endlich auf, Gott vorzuschreiben, was er zu tun hat!“, soll sein Physiker-Kollege Niels Bohr darauf geantwortet haben.
Aus heutiger Sicht lag Einstein falsch: Nach den Regeln der Quantenphysik ist der Zufall wirklich ein ganz entscheidender Teil der Wirklichkeit – auch ein Laplace’scher Dämon, der alles über die Welt weiß, könnte die Quantenphysik nicht überlisten.
Aus Zufall wird Aberglaube
Aber wenn wir akzeptiert haben, dass der Zufall in unserem Leben nun mal eine entscheidende Rolle spielt, können wir noch viel interessantere Fragen stellen: Wie kommt es, dass wir Menschen mit dem Zufall so merkwürdig umgehen? Es fällt uns erstaunlich schwer, die Unvorhersagbarkeit der Welt zu akzeptieren. Gerne vermuten wir Regeln und Gesetzmäßigkeiten, wo in Wirklichkeit bloß der Zufall regiert.
Beim Roulette kommt viermal hintereinander rot – dann muss doch jetzt schwarz an der Reihe sein! Unser Auto steht auf Parkplatz Nummer 17, als der Lack zerkratzt wird, und später verstauchen wir uns am 17. des Monats den Knöchel. Ganz klar: 17 ist offenbar unsere Unglückszahl. Ein Fußballspieler kauft sich neue Socken und schießt beim nächsten Spiel zwei Tore – dann muss er die Socken beim nächsten Spiel unbedingt wieder anziehen, die haben offensichtlich Glück gebracht.
Viele menschliche Dummheiten entstehen, weil wir falsch mit Zufälligkeiten umgehen. Wir entwickeln Aberglauben, wir befolgen sinnlose Regeln, oder wir haben Erfolg und halten uns für ganz toll – auch wenn wir unseren Erfolg vielleicht bloß einem glücklichen Zufall zu verdanken haben.
Der Zufall, das Universum und du
Über all diese Dinge, von den naturwissenschaftlichen Grundlagen des Zufalls bis zu seinen verrücktesten psychologischen Auswirkungen, habe ich ein Buch geschrieben, das eben im Brandstätter Verlag erschienen ist: „Der Zufall, das Universum und du“.
Wer dem Phänomen Zufall von unterschiedlichen Seiten auf die Spur kommen möchte, sollte es lesen. Und wer sich dafür nicht interessiert, kann es sicherheitshalber ja trotzdem kaufen. Vielleicht kann er es ja zufällig mal für ganz andere Zwecke nutzen: Als Unterlage unter einem wackeligen Tischbein etwa. Oder als Wurfgeschoß bei einer hitzigen Auseinandersetzung. Man weiß es nie: Die Zukunft ist eben unvorhersehbar.
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