Killerviren aus dem Internet
Viren sind faszinierende Kreaturen: Im Vergleich zu Pflanzen oder Tieren sind sie lächerlich primitiv, aber sie können sich rasend schnell ausbreiten und eine Menge Ärger verursachen. Alleine können sie sich nicht fortpflanzen, stattdessen manipulieren sie unsere Körperzellen, um von ihnen kopiert zu werden. Mit einem ähnlichen Phänomen haben wir es im Internet zu tun: Auch Postings, Kurznachrichten oder Hetzparolen sind meist ziemlich primitiv, können sich rasend schnell ausbreiten und für Ärger sorgen. Auch sie vermehren sich nur durch menschliche Mithilfe.
Wenn virale Botschaften durchs Internet toben, wundern wir uns oft über menschliche Dummheit. Was haben diese Leute davon, Unsinn zu verbreiten? Vielleicht ist das die falsche Sichtweise. Epidemien versteht man oft besser, wenn man sie aus der Sicht der Viren selbst betrachtet – oder aus Sicht der Internetpostings.
Beide folgen derselben evolutionären Logik: Was sich vermehrt, gewinnt. Für Intelligenz, Subtilität oder Schönheit werden keine Punkte vergeben. Das gilt in der Biologie genauso wie in der Welt der Gedanken und Ideen. Ob Texte, Parolen oder Internetpostings weitergegeben werden, hängt nicht davon ab, ob sie wahr oder falsch sind, ob sie für Menschen nützlich oder schädlich sind, sondern hauptsächlich von ihrem Potenzial, Emotionen zu entfachen. Was uns emotional berührt, geben wir weiter – das lässt sich statistisch nachweisen. Am heftigsten reagieren wir auf Zorn, Hass und Ärger.
Für Viren ist es nützlich, uns in der Straßenbahn zum Niesen zu bringen, dann verbreiten wir sie weiter. Für Internet-Memes ist es nützlich, uns zornig zu machen, dann teilen wir sie mit erbostem Kommentar auf all unseren Social-Media-Accounts. Wenn wir nun aus Hass auf die Hasspostings selbst in Hass verfallen und intensiv zurückhassen, verstärken wir diesen Mechanismus. Es ist als würde man in der Straßenbahn aus Rache zurückniesen, wenn man angeniest wird.
Erfolgreiche Symbiose
Das bestmögliche Ökosystem für Hasspostings ist daher, wenn zwei Gruppen entstehen, die einander ständig neuen Grund für Ärger liefern. Dabei spielt die direkte Konfrontation mit Vertretern der Gegenseite gar keine zentrale Rolle, viel wichtiger ist es, innerhalb der eigenen Fraktion über die unsägliche Verkommenheit der anderen Gruppe zu schimpfen. Für uns sieht das nach Feindschaft aus, auf Ebene der viralen Hasspostings betrachtet ist es aber eine erfolgreiche Symbiose: Sie halten einander gegenseitig am Leben, weil jede Seite den Hass der anderen weiterkochen lässt. Die Menschen ärgern sich, die Hassparolen gedeihen prächtig.
Und genau dieses Phänomen können wir täglich beobachten: Auf der linken wie auf der rechten Seite des politischen Spektrums verbreiten sich Meldungen über skandalöse Aussagen der Gegenseite wie Viren auf der Masernparty. Von solchen Mechanismen können wir uns nicht vollständig lösen. Wie der Niesreflex gehören sie zur menschlichen Natur. Aber genauso wie man in ein Taschentuch niesen und sich regelmäßig die Hände waschen soll, müssen wir im Internet auf Psychohygiene achten: Nicht alles, was unseren Zorn entfacht, muss gleich mit anderen geteilt werden. Wir können uns bewusst bemühen, uns nicht ständig mit Themen zu befassen, die mit Zorn, Ärger und Wut besetzt sind. Gedanken, die andere Emotionen schüren, haben unsere Aufmerksamkeit viel eher verdient.
Die eigentlichen Feinde sind nicht die Internettrolle, sondern die Hassbotschaften selbst. Sie muss man an der Vermehrung hindern. Wer Unsinn teilt, ist nicht automatisch böse. Manchmal wird unser Denken einfach nur von viralem Unsinn befallen, der uns als Wirtsorganismen braucht um weiterverbreitet zu werden. Wir müssen Abwehrkräfte entwickeln, um uns davon nicht ausnützen zu lassen.
Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen. Über Wissenschaft, Blödsinn und den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen, schreibt er regelmäßig auf futurezone.at und in der Tageszeitung KURIER.