Unwiderlegbare Wissenschaft
Es ist immer wieder dasselbe: Man plaudert mit Astrologen, man streitet mit Wunderheilern, man diskutiert mit Leuten, die sich vor Reptilien-Aliens fürchten. Wenn man ihnen erklärt, dass ihre Behauptungen lächerlich sind, weil sie den Naturgesetzen widersprechen, dann kommt jedes Mal dasselbe Argument: Die Wissenschaft ist einfach noch nicht so weit. Unser wissenschaftliches Weltbild ändert sich doch ständig. Was vor hundert Jahren anerkannte Wahrheit war, ist heute längst überholt. Warum sollte man der Wissenschaft also vertrauen?
Bewegliche Wissenschaft, statische Esoterik
Auf den ersten Blick erscheint das plausibel: Es gab Zeiten, in denen die klügsten Wissenschaftler der Welt der Meinung waren, dass sich die Sonne um die Erde dreht. Noch im späten 19. Jahrhundert hielten manche Physiker Atome für eine dumme Erfindung ahnungsloser Chemiker. Nachdem man Röntgenstrahlen entdeckt hatte, waren die wissenschaftlichen Experten davon überzeugt, dass Strahlung keine schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit haben kann. Heute wissen wir es besser. Wenn neue Erkenntnisse an den Fundamenten der Naturwissenschaft rütteln, dann gehen manche für unverrückbar gehaltene Überzeugungen zu Bruch. Das ist ganz normal.
In der Esoterik sieht die Sache anders aus: Behauptungen, die den Boden der Tatsachen gar nicht berühren, sondern frei aus der Luft gegriffen werden, müssen sich kein Stückchen bewegen, auch wenn neue Erkenntnisse die Wissenschaft zurechtrücken.
Die Astrologie teilt das Jahr noch immer genauso in zwölf Sternzeichen ein wie zur Zeit der alten Babylonier, obwohl die Erdachse seither gewandert ist und sich die Sternzeichen eigentlich verschoben haben. Die alte hinduistische Chakren-Lehre lebt in der modernen Alternativmedizin unverändert weiter, völlig unberührt von dem medizinischen Wissen, das wir inzwischen angehäuft haben. Auch die Homöopathie wird nach wie vor nach den Regeln betrieben, die sich Samuel Hahnemann vor gut zweihundert Jahren ausgedacht hat. Anpassungen, Änderungen oder Verbesserungen sind offenbar nicht nötig. Heißt das nicht, dass diese Theorien stabiler, verlässlicher und glaubwürdiger sind als die wankelmütige Wissenschaft?
Wer das glaubt, vertraut wohl auch einer stehengebliebenen Uhr eher als einer tickenden Uhr, die drei Minuten nachgeht. Klar - die stehende Uhr zeigt zweimal täglich die richtige Zeit an, aber trotzdem ist sie völlig nutzlos. Die andere stimmt zwar nie perfekt, aber sie bewegt sich – und darauf kommt es an.
Was sich heute bewährt, stimmt auch morgen noch
Wer der Wissenschaft vorwirft, nicht die perfekte Wahrheit zu liefern, hat nicht verstanden, was Wissenschaft bedeutet. Die Wissenschafts-Kritiker haben eine entscheidende Sache übersehen: Wenn eine neue Theorie die Wissenschaft revolutioniert, landen die alten Theorien dadurch nicht auf der Müllhalde. Wenn die alten Theorien bisher gute Ergebnisse geliefert haben, werden sie das auch in Zukunft tun. Die wissenschaftlichen Grundsätze, die heute als gesichert gelten, werden sich niemals als völlig falsch erweisen. Das sind sie nämlich nicht. Gute Wissenschaft ist in gewissem Sinn unwiderlegbar.
Isaac Newton hat eine Theorie der Gravitation entwickelt. Mit seinen Formeln kann man die Bahn der Erde um die Sonne berechnen, den Auftreffpunkt eines gespuckten Kirschkerns oder auch die Geschwindigkeit, mit der ein Blumentopf aus dem zweiten Stock am Gehsteig zerschellt. Über zweihundert Jahre später präsentierte Albert Einstein eine völlig andere Sichtweise auf die Gravitation: In seiner allgemeinen Relativitätstheorie werden Raum und Zeit verbogen – ein Konzept, das Newton wohl völlig verrückt erschienen wäre. Einsteins Theorie ist genauer, sie liefert auch dort noch ausgezeichnete Ergebnisse, wo man mit Newtons Formeln nicht mehr weiterkommt, zum Beispiel bei Objekten, die sich extrem schnell bewegen.
Hat Einstein also Newton widerlegt? Nein. Newtons Formeln wurden durch Einstein nicht wertlos. Sie werden zu Recht nach wie vor in allen Schulen der Welt gelehrt. Sie haben sich nämlich als nützlich erwiesen, und das kann ihnen niemand mehr wegnehmen. Wer heute eine Landung am Mars plant, wird dafür Newtons Formeln verwenden. Sie sind einfacher als Einsteins Gleichungen, und sie werden praktisch dieselben Ergebnisse liefern.
Wissenschaft als Werkzeugkasten
Wissenschaftliche Theorien sind Werkzeuge: Wenn ich mir einen tollen Akkuschrauber kaufe, wird mein guter alter Schraubenzieher dadurch nicht widerlegt. All das, wofür er bisher gut genug war, wird er auch in Zukunft noch leisten können.
Genauso müssen wir uns auch die Zukunft der wissenschaftlichen Theorien vorstellen, auf die wir heute vertrauen. Es ist durchaus möglich, dass sich irgendwelche genialen Leute demnächst eine ganz neue Beschreibung der Welt ausdenken. Vielleicht gelingt es endlich, Quantentheorie und Relativitätstheorie auf zufriedenstellende Weise zu vereinen. Vielleicht formuliert jemand eine neue Theorie der Elementarteilchen, die endlich das Problem der dunklen Materie löst. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass die Wissenschaft in zweihundert Jahren ganz anders aussehen wird als heute. Doch alle Theorien, alle physikalischen Grundsätze und Formeln, die sich heute jeden Tag bewähren, werden auch dann nicht als Unfug gelten. Man wird vielleicht erklären können, warum sie nicht die letztgültige Wahrheit sind, aber sie werden nicht als dumm und naiv betrachtet werden wie der Glaube an Feen und Kobolde.
Und wenn man verstanden hat, dass wissenschaftliche Theorien Werkzeuge sind, die zwar vielleicht von besseren Werkzeugen abgelöst werden können, aber dadurch nicht wertlos werden, dann ist auch völlig klar, dass der stetige Wandel der Wissenschaft niemals ein Argument für esoterische Behauptungen ist.
Wenn heute jemand behauptet, dass sich Wassermoleküle mit mysteriöser Quantenenergie aufladen lassen, dass man mit kuriosen mechanischen Vorrichtungen Energie aus dem Nichts gewinnen kann, dass die Erde innen hohl ist und von Reptilien-Aliens gesteuert wird, dann ist das Unfug und wird Unfug bleiben. Es widerspricht allem, was wir über die Natur wissen – und es wird auch in zweihundert Jahren noch den Theorien der Naturwissenschaft widersprechen, auch wenn sich diese Theorien bis dahin weiterentwickelt haben. Die Wissenschaft ist wandelbar – aber trotzdem verlässlich.
Man kann keinen Schokopudding an die Wand schrauben. Nicht mit dem Schraubenzieher und nicht mit dem Akkuschrauber. Und auch wenn sich unsere Nachfahren noch viel großartige Schraubinstrumente ausdenken, wird sich daran nichts ändern.