Meinung

Wir sollten uns mehr ärgern

Es nervt, wenn einem andere Leute widersprechen. Und ganz besonders nervt es, wenn es um ein Thema geht, bei dem man sich ziemlich gut auskennt und eigentlich sicher ist, der eindeutig korrekten Meinung zu sein.

Ganz besonders gilt das in der Wissenschaft: Man verbringt Monate mit aufwändiger Forschung, grübelt nächtelang über komplizierte Formeln und findet irgendwann endlich eine wunderschöne Lösung. Die schreibt man dann auf und sendet sie an ein Fachjournal – und vom Fachjournal wird die Arbeit zuallererst mal an jemanden geschickt, der widersprechen soll.

Auch nach wissenschaftlichen Vorträgen wird man nicht für seine schönen Worte gelobt – die anschließende Diskussion ist dazu da, mögliche Fehler zu entdecken. Das Publikum bohrt die Finger gezielt in die Schwachstellen der präsentierten These und überprüft, ob sie standhält. Das geschieht aber nicht aus Boshaftigkeit. Es geht darum, Thesen zu verbessern. Und das gelingt am besten, indem man versucht, diese Thesen zu widerlegen.

Klüger werden durch Widerspruch

Das ist oft nervtötend, aber es ist ein unverzichtbarer Teil der Wissenschaft. Nur durch Gegenargumente kann man die eigene These schärfen, präzisieren oder gegebenenfalls auch verändern. 

Das bedeutet: Leute, die etwas hinterfragen, was wir für offensichtlich wahr halten, sind nicht unsere Gegner. Wir sollten ihnen dankbar sein. Das gilt nicht nur in der Wissenschaft. Vielleicht habe ich als Staatsbürger ziemlich gut durchdachte Meinungen darüber, wie man das Steuersystem reformieren sollte? Meine Meinung wird nicht klüger, wenn ich nur mit Menschen diskutiere, die ähnliche Meinungen haben. Ich muss die Meinung einem kritischen Falsifikationsversuch aussetzen.

Wenn ich Impfungen gegen COVID wichtig finde, kann ich es trotzdem gut finden, wenn jemand versucht, das Gegenteil zu beweisen. Wenn ich überzeugt bin, dass die Klimamodelle, die einen gefährlichen Temperaturanstieg vorhersagen, richtig sind, kann ich trotzdem gut finden, wenn es Leute gibt, die nach Fehlern suchen und überlegen, ob es nicht noch bessere Modelle gibt.

Auch wenn ich mit einer Meinung konfrontiert werde, die ich sicher niemals annehmen werde, auch wenn ich tatsächlich recht habe und der andere falsch liegt, kann es für mich trotzdem nützlich sein, mich mit dieser Meinung auseinanderzusetzen – und sei es nur, um zu üben, meine eigene Meinung präzise und exakt zu erklären. Auch wenn man sicher ist, richtig zu liegen, soll man andere daher nicht voreilig als „Schwurbler“, „Verschwörungstheoretiker“ oder „Fake-News-Verbreiter“ beiseiteschieben. Widerspruch ist gut. Durch Widerspruch werden unsere Gedanken besser und verlässlicher.

Das Problem ist nur: Widerspruch bringt uns nur dann weiter, wenn er ein gewisses Niveau hat. Wenn jemand erklärt, die COVID-Impfung sei böse, weil uns dunkle Eliten Mikrochips implantieren wollen, oder wenn uns jemand erklärt, dass es den Klimawandel gar nicht gibt, dann wird unsere These dadurch weder klüger noch zuverlässiger. Aus billig hingeworfenen Gegenargumenten lernen wir nichts.

Der gute Ärger

Daher ist es für uns nicht nur wichtig, dass wir selbst unsere eigene Meinung mit guten Argumenten untermauern. Wir sind auch davon abhängig, dass die Gegenseite von niveauvollen Leuten vertreten wird. Wenn in einer Fernsehdiskussion jemand sitzt, der mit guten Argumenten eine Meinung präsentiert, die ich furchtbar finde, dann ärgert mich das. Aber es ist ein guter Ärger. Es ist ein Ärger, der uns herausfordert, unserer Argumente schärft und uns klüger macht. Wir sollten uns mehr auf diese Weise ärgern.

Wir sollten daher ganz gezielt den Kontakt zu den klügsten und niveauvollsten Leuten der Gegenseite suchen. Wenn viele Leute anderer Meinung sind als wir, dann sollten wir nicht mit dem Finger auf die radikalsten und dümmsten Vertreter dieser Gruppe zeigen – denn radikale und dumme Leute gibt es immer, in jeder Gruppe. Wir sollten überlegen: Wer sind die klügsten, inspirierendsten Leute, die anderer Meinung sind als wir? Und mit denen sollten wir uns auseinandersetzen.

Natürlich ist es angenehmer, sich nur mit Leuten zu umgeben, die brav wiederholen, was man selbst auch schon gesagt hat. Aber das macht uns nicht klüger. Wenn wir dazulernen wollen, müssen wir uns manchmal ärgern. Und wir sollten froh darüber sein.

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Florian Aigner

Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen. Über Wissenschaft, Blödsinn und den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen, schreibt er regelmäßig auf futurezone.at und in der Tageszeitung KURIER.

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