Schnee ist eine Lüge!
Keine 2 Schneeflocken auf der Erde sind gleich. Zumindest liest man das immer wieder. Eigentlich wäre das ein schönes Thema für die Weihnachtsausgabe meiner Kolumne, dachte ich. Wenn man ein bisschen über die Physik der Schneeflocken nachdenkt, könnte man doch nachrechnen, ob das stimmt.
Ich mache mich also fröhlich auf die Suche nach guten wissenschaftlichen Quellen über Eis und Schneeflockenbildung. Es gibt 35 Grundtypen von Schneeflocken, lerne ich. Aber Moment: Eine andere Quelle kommt auf 39. Oder 121. Der japanische Schneeflockologe Ukichiro Nakaya kam 1936 auf über 200 verschiedene Schneeflockentypen. Also was stimmt jetzt?
Widersprüchliche Geometrie
Vielleicht muss man tiefer in die physikalischen Grundlagen hineinsteigen. Eiskristalle haben eine 6-seitige Symmetrie, die sich durch die spezielle verwinkelte Form des Wassermoleküls ergibt. Das habe ich schon in der Schule gelernt.
Aber Vorsicht: Ein regelmäßiges Sechseck hat Winkel von 120 Grad. Wassermoleküle haben aber einen Winkel von 104,5 Grad. Das passt doch nicht zusammen! Hat mich die Schule angelogen? Der Wassermolekül-Winkel passt viel besser zu einem Tetraeder – einer dreiseitigen Pyramide, deren Zentrum mit den Ecken einen Winkel von jeweils 109,5 Grad einschließt. Aber warum um Winterhimmels Willen sind dann Schneeflocken 6-eckig und nicht pyramidig?
Je tiefer ich mich in das Thema vergrabe, umso klarer muss ich erkennen: Die Sache ist faszinierend, aber kompliziert. Es gibt einfache Erklärungen, die ein bisschen falsch sind – oder korrekte Erklärungen, die dutzende Seiten Text in Anspruch nehmen.
Man unterscheidet ganz unterschiedliche Sorten von Eis. Unter gewöhnlichen Bedingungen entsteht das sogenannte Eis-1h, mit einer sehr merkwürdigen molekularen Struktur, in der sich die Sauerstoff-Atome streng regelmäßig anordnen, die Wasserstoff-Atome hingegen eher ungeordnet sind. Auf welche Weise genau? Darüber findet man unterschiedliche Angaben. Wichtige Details dieser Frage scheinen bis heute ungeklärt zu sein. Unterschiedliche wissenschaftliche Publikationen widersprechen einander.
Wir werden doch alle belogen!
Langsam verstehe ich, wie man in solchen Situationen in Verschwörungstheorien abgleiten kann. Auf den ersten Blick war alles einfach. Auf den zweiten Blick aber ergibt das alles keinen Sinn mehr. Erst beim 87. Blick fügen sich die Dinge wieder zusammen. Aber wenn man bis dahin nicht durchhält, dann kann man sehr leicht den Schluss ziehen: Diesen wissenschaftlichen Schneeflockeneliten ist nicht zu vertrauen! Schnee ist eine Lüge! Die da oben wollen uns bloß einreden, dass Wasser in fester, weißer Form vom Himmel fallen kann – eine völlig unsinnige Annahme. Wasser ist schließlich durchsichtig. Vermutlich will man uns durch das Gerede vom Schnee nur davon ablenken, dass die Regierung giftiges weißes Zeug über uns versprüht!
Die Wirklichkeit ist meistens kompliziert. Und wenn man sie nur oberflächlich betrachtet, ist es schrecklich einfach, aus wissenschaftlichen Ergebnissen scheinbare Widersprüche herauszupflücken und dann als Argument gegen die Wissenschaft zu verwenden. Und wenn das schon bei simplen Schneeflocken problemlos klappt, wie sollte es dann bei komplexeren Themen anders sein? Beim Klimawandel? Beim Einsturz des World Trade Centers? Bei der Wirksamkeit von Impfungen? Vielleicht ist das Entstehen von Verschwörungstheorien gar nichts Überraschendes, sondern eine beinahe unvermeidliche Reaktion auf die überfordernde Komplexität der Welt?
Natürlich kann man die Sache bis zum Ende durchdenken und erkennen, dass die Wahrscheinlichkeit für 2 Schneeflocken mit ununterscheidbarer geometrischer Form tatsächlich verschwindend gering ist, weil jede kleine Verästelung empfindlich von winzigen Details der Umgebung abhängt. Aber bis man dort ankommt, stößt man eben auf eine lange Liste von Fakten, die zuerst seltsam, unlogisch oder gar widersprüchlich erscheinen – bis man den scheinbaren Widerspruch dann aufgelöst hat.
Wenn man dafür keine Zeit hat, dann muss man eben die Abkürzung einer Verschwörungstheorie wählen. Oder man akzeptiert, dass man nicht alles bis ins letzte Detail verstehen muss. Irgendwann darf man auch Pause machen. Gerade in den dunkelsten Tagen des Jahres, wenn der Schnee so hübsch glitzert. Manchmal ist das genug.