Nokia X7 im Test: Handy ohne Sinn und Zweck
Das N8 ist im Nokia-Universum als Foto-Handy positioniert, das E7 ist das Business-Gerät für Vielschreiber. Das neue X7, das als erstes Modell mit der Symbian-Version „Anna“ ausgeliefert wird, ist als Unterhaltungsmaschine mit Schwerpunkt Musik konzipiert. Während andere OS-Plattformen und Hersteller bei ihren Produkten keine spezielle Funktion in den Vordergrund rücken, bleiben die Finnen weiterhin dieser Schubladisierung verhaftet.
Was das X7 zum Handy für Medienkonsum aller Art macht, sind sein großes Display sowie die lautstarken und prominent platzierten Lautsprecher. So wie tiefe Lüftungsschlitze in den Flanken von Supersportwagen Leistung und Speed symbolisieren, verdeutlichen die hinter Rillen versteckten Lautsprecher die Bestimmung des Geräts. In den vier abgeschrägten Ecken des Gehäuses prangen diese Schlitze (nur die zwei unteren beherbergen tatsächlich Lautsprecher), die maßgeblich zum eigenwilligen Design des X7 beitragen. Es sind diese ungewohnten Formen des Handys, die nochmals den „Lifestyle“-Charakter des Modells unterstreichen: Es ist ungewöhnlich, es wurde entworfen, es ist anders – so die Formsprache.
Design sticht hervor und polarisiert
Wie so oft ist das Ergebnis Geschmacksache. Manche mögen das Auftreten als „futuristisch“ oder „kontemporär“ bezeichnen, anderen als „protzig“ oder „angestrengt“. Hier fällt jeder sein eigenes Urteil. Was hingegen durchaus als Manko zu werten ist, ist der runde Gehäuserücken. Dieser lässt das Handy auf den ersten Blick dünner und leichter (146 Gramm) wirken, als es tatsächlich ist; wie beim ersten iPhone und iPad erweist sich diese Form jedoch als unpraktisch. Liegt das Handy am Tisch, etwa um länger zu surfen oder eine EMail zu verfassen, wackelt es bei jedem Tipper. In Ermangelung breiter Kanten, kann man es auf keiner Seite aufstellen. Selbst wenn man das Handy längs an der Wand anlehnt, rutscht es ab. Somit bleiben zwei Optionen: Entweder man hält es in der Hand oder man legt es auf den Tisch und starrt von frontal von oben darauf. Für bequemes Filmschauen ist beides nicht geeignet.
Hauptsache gut aussehen
Überhaupt ist beim X7 ein Motto zu erkennen, das Nokias verdrehte Welt widerspiegelt: „function follows form“ heißt die Designlinie bei diesem Handy. So kann man – wie schon beim E7 – den Akku nicht tauschen. Da dieser nicht sonderlich leistungsstark ist (1300 mAh, er hält bei normaler Nutzung ein bis eineinhalb Tage), muss das Telefon oft an den Stecker. Damit der runde Rücken im gebürsteten Alu-Look nicht durch Knöpfe oder andere Applikationen verunstaltet wird, haben die Designer eine – in ihren Augen wohl innovative – Mechanik erfunden. Auf der linken Gehäuseseite sind zwei Einschübe, in denen die SIM-Karte sowie die MicroSD-Karte (8GB im Lieferumfang, bis zu 32GB möglich) verschwinden – und zwar nahtlos und so, dass es keine Erhebung gibt. Das sieht gut aus. Die Handhabe ist hingegen nicht Vertrauenerweckend. Um den Metallschlitten, in dem die Karte sitzt, aus dem Gehäuse zu lösen, muss die Blende an einer Seite eingedrückt werden. Dann springt die andere Seite aus dem Gehäuse. Nun muss der abstehende Teil solange gezupft werden, dass beide Seiten gleichmäßig aus dem Gehäuse stehen. Dann kann man den Schlitten komplett herausziehen. Das klingt nicht nur kompliziert, es ist es auch. Die Systematik ist nicht intuitiv. Für das heikle Prozedere ist sehr viel Fingerspitzengefühl notwendig.
Auf der anderen Gehäuseseite hat sich Nokia auf zwei Knöpfe beschränkt: Kamera-Auslöser (langes Drücken öffnet die entsprechende „App“) und Lautstärke-Regler. Auf der Gehäuseoberseite finden sich noch eine 3,5mm-Klinken-Buchse, der Ein/Aus/Profil-Schalter sowie die MicroUSB-Buchse. Ein HDMI-Anschluss fehlt – was bei solch einem Handy verwundert, aber weiters nicht stört. Das andere Ende des Gehäuses ist übrigens leer.
Kamera mit Fix-Fokus und durchschnittlicher Qualität
Auf der Rückseite sitzt schließlich noch eine 8MP-Kamera mit Dual-LED-Blitz. Wie auch schon beim E7 gibt es keinen Autofokus, sondern das Objektiv stellt alles über 20cm Entfernung (kein Makro) immer scharf dar. Dadurch erhöht sich die Auslösegeschwindigkeit, die kreativen Möglichkeiten werden hingegen beschnitten. Der Dual-LED-Blitz ist übrigens besonders stark: Aufnahmen werden sehr hell, Personen vor der Linse können den Blitz daher als störend und grell empfinden. Punkto Bildqualität ist nichts Außergewöhnliches zu vermelden. Die Bilder sind Durchschnitt, vielleicht etwas blass. Gleiches gilt in Sachen Video: Die Qualität ist ok, 720p-Aufnahmen sind möglich, wobei es hier ab und an zu Aussetzern kommen kann.
Display mit zu geringer Auflösung
Die Front wird vom 4 Zoll großen AMOLED-Display (ohne Nokias Clear-Black-Technologie) bestimmt, das unter robustem Gorilla-Glas steckt. An der unteren Seite des Bildschirms thront der Home/Menü/Multitasking-Knopf – welche Funktion er gerade auslöst, hängt davon ab, in welchem Programm man gerade ist. Das Display misst 360x640 Pixel – was im Vergleich zu Konkurrenz-Modellen wenig ist. Das HTC Desire S (3,7 Zoll) bietet ebenso wie das Samsung Nexus S 480x800 Pixel. Somit ist das X7 in diesem Belang nicht mehr zeitgemäß. In der Praxis schlägt sich dieses Manko in viel Scrollen und Zoomen wieder.
Schwacher Prozessor und zu wenig Ram
Auch in anderen technischen Belangen macht das X7, das immerhin eines von Nokias Top-Modellen ist, eine schlechte Figur. Der 680Mhz ARM 11 Prozessor wirkt im Vergleich zu den Gigahertz- und Doppelkern-Bullen der Konkurrenz schwachbrüstig. Hinzu kommen noch magere 256MB Ram. Eine Kombination, die diesem Handy gar nicht bekommt. Wie in vergangenen Windows-Zeiten, in denen Nutzer die Sanduhr zu hassen lernten, müssen sich X7-Nutzer an den „Lade-Ring“ gewöhnen. Diese Animation kehrt immer wieder: je mehr Programme man parallel offen hat, desto öfter kommt man sie zu Gesicht.
Aber nicht nur unter Volllast rotiert das Gerät. Gerade nach einem Telefonat bremst sich das Handy selbst aus. Die Touch-Knöpfe reagieren nicht, bis der Home-Screen wieder auftaucht und benutzbar ist, vergehen Sekunden. Wer ungeduldig ist, tippt mehrmals ohne Erfolg auf die virtuellen Tasten. Aktionen, die dann dafür mit Verspätung im Stakkato-Takt ausgelöst werden und in wildem Auf-Zu von Programmen und Untermenüs münden. Ein weiteres Problem, das im Test drei Mal auftrat: Das Widget für verpasste Anrufe, eingelangte SMS und EMails hängt sich auf und aktualisiert sich nicht mehr. Nur ein Neustart des Geräts behebt dieses Problem.
Symbian Anna bringt kaum Neues und enttäuscht
Das X7 ist das erste Handy, das mit der neuen Symbian^3-Version namens „Anna“ ausgeliefert wird. Im direkten Vergleich mit dem E7 und dessen „alter“ Version wirkt das X7 mit dem neuen „Anna“ insgesamt überfordert. Beim Scrollen durch die geöffneten Programme im Multitasking-Manager kommt es immer wieder zum Stocken. Eine neue „Funktion“ von Anna ist, dass man nun von einem zum anderen der drei Home-Screens scrollen kann. Man verschiebt also tatsächlich die Widgets und wechselt nicht statisch von einem Schirm zum nächsten. Aber auch hier könnte das X7 flüssiger agieren, denn der Wechsel wirkt träge.
Fürs Surfen ist Opera weiterhin erste Wahl
Eine weitere, überfällige Verbesserung, die „Anna“ bringt, ist ein überarbeiteter Browser. Der alte war nicht nur langsam, sondern auch schlecht zu bedienen. Die Finnen haben tatsächlich ihr Versprechen gehalten und das Programm verbessert. Wirklich ausgereift ist es aber weiterhin nicht. Zwar wurden lästige Icons und Menüzeilen entfernt, was der Übersicht und Lesbarkeit zu Gute kommt. Insgesamt wirkt der Browser aber noch immer langsam – vor allem wenn aufwendige Seiten mit vielen Animationen geladen werden. Größtes Manko ist jedoch das Zurücksurfen auf andere Seiten: Hier geht ein Extra-Fenster auf, in dem man im Cover-Flow-Stil durch die Webseiten scrollen soll. Es wird jedoch so sensibel auf eine Fingereingabe reagiert, dass es nahezu unmöglich ist, die gewünschte Seite präzise und korrekt anzuwählen. Somit gilt für Symbian Anna sowie das X7: Opera Mobile ist weiterhin Pflicht und gehört sofort installiert und als Standard-Browser eingerichtet. Damit klappt das Surfen gut und das Handy macht Spaß.
Touch-Tastatur mit Problemen
Beim Surfen im neuen Browser, aber auch beim Tippen von EMails und SMS kann man nun eine QWERTZ-Tastatur mit Split-Screen verwenden. Heißt im Klartext: Unten tippt man auf der eingeblendeten Tastatur während oben direkt in der Applikation die Buchstaben erscheinen. Das ist gerade bei einem Touch-only-Gerät wie dem X7 eine enorme Erleichterung. Nur gibt es hier einen Haken: Das virtuelle Keyboard ist so groß, dass es die Hälfte des Bildschirms einnimmt. Das stört vor allem bei längeren Texten, da man leicht die Übersicht verliert. Zudem ist – und das ist eine rein subjektive Erfahrung - das Treffen der Tasten nicht so leicht wie bei Systemen der Konkurrenz.
Die weiteren Neuerungen bei Anna sind Details, wie etwa eine bessere Bedienung des Kalenders oder eine breitere Unterstützung von Protokollen für die Einbindung in Business-Umgebungen. Unterm Strich sind dies aber Optionen, die ein Nutzer kaum bemerken wird. Wer sich von der neuen OS-Version große Sprünge erwartet, wird definitiv enttäuscht. Die neuen wie auch alten Handys (N8, E7, etc.) werden dadurch nicht attraktiver oder empfehlenswerter. Android und iOS sind in Sachen Bedienkomfort weiterhin überlegen.
Fazit: Sowohl Handy als auch Betriebssystem enttäuschen
Somit kann weder für das X7 noch für Symbian^3 Anna eine Empfehlung ausgesprochen werden. Das X7 ist für das, was es kann, zu teuer. Würde es 250 Euro anstatt 460 Euro kosten, wäre es eine Überlegung wert und man könnte über die schwache Leistung und die Designmängel hinwegsehen. Ob nun „Anna“ installiert ist oder nicht, ist sekundär. Die neue OS-Version ist kein Quantensprung, vielmehr eine dezente Verbesserung eines antiquiert wirkenden Betriebssystems. Selbst jene, die Nokia und Symbian treu ergeben sind, sollten um das X7 einen Bogen machen. Ein E7 oder auch ein E6 machen aufgrund der Tastatur weit mehr Sinn. Und ein „altes“ N8, für das „Anna“ im August kommt, nimmt es mit dem X7 auch noch auf.
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