Schrei
Schrei
© olly/Fotolia

Peter Glaser: Zukunftsreich

Aaaaahhhh!!!

Mit Donald Trump hat das Herumschreien auf Twitter weltpolitische Dimension erlangt. Manchmal weiß man nicht, ob davon vielleicht in nächster Zeit einmal irrtümlich ein kleiner Atomkrieg ausbrechen wird oder der unsouverän wirkende Souverän den Mangel an Affektbezähmung, den man in der Politik Diplomatie nennt, eigentlich gar nicht ernst meint. Sind Trumps Tweets eine bizarre, rauhe, schnauzende Art von Humor?

Ein absurder Account

Der irische Comedian Colin Chadwick leidet, wie er selbst sagt „unter den Konsequenzen schlechter Witze“. Kritiker bescheinigen ihm ein besonderes Talent, seine Botschaften in einprägsame Sätze zu quetschen - Twitter mit seinem Zwang zur Kürze scheint für ihn wie gemacht. Chadwick pflegt einen bemerkenswerten und leicht absurden Twitter-Account, der seine Attraktivität im Grunde aus einer einzigen Buchstabenfolge bezieht: ein Schrei („Aaaaaahhhhh!!!“), der sich auf das weltberühmte Gemälde „Der Schrei“ von Edward Munch bezieht.

Ursprünglich wollte Chadwick - ein großer Bewunderer des Gemäldes - nur mal sehen, „wie das ist, wenn man auf Twitter herumblödelt und den Leuten ein Lächeln schenkt. Das ist auch nach wie vor weitgehend der Hauptzweck.“ Ab und zu ist dann ein Schrei auf seinem Twitter-Account wahrzunehmen.

Ein geheimnisvoller Hauch

Die Arbeit könnte man von einem Bot bequem automatisch erledigen lassen. Chadwick macht alles von Hand. Weshalb? „Das Bild hat eine viel zu starke Persönlichkeit, als dass es sich durch eine Software vertreten ließe. Bots sind seelenlos und haben keine Tiefe, ganz im Gegensatz zum „Schrei“. Mir gefällt dieser geheimnisvolle Hauch.“ Die Leute interagieren mit dem Twitter-Account, ohne wirklich zu wissen, was dahintersteckt.

Und der Schrei, den Chadwick gelegentlich vernehmen lässt, ist nicht einfach immer derselbe. Manchmal ist er länger als sonst, manchmal kürzer. Manchmal kommt eine zeitlang nichts, dann innerhalb von Tagen mehrere Schreie. Das seien Stimmungsschwankungen. Und die unterschiedliche Länge des Schreis solle die geheimnisvolle Atmosphäre bewahren. Als vor einiger Zeit eine Version des Gemäldes bei einer Auktion für 120 Millionen Dollar verkauft wurde, gab es beispielsweise eine ganze Menge Schreie.

Die Riesen-Egos von Großkunstwerken

Es gibt auch andere Kunstwerke, die einen eigenen Twitter-Account haben, die Mona Lisa zum Beispiel oder der Hai in Formalin von Damien Hirst, Chadwick tauscht sich mit denen auch aus. Kunstwerke begegnen sich wie Menschen – online. Bei Großkunstwerken wie diesen ist es unwahrscheinlich, dass sie sich jemals im selben Raum befinden werden. Ihre Egos würden das nicht zulassen.

„Niemand auf der Welt muss sich so viel Unsinn anhören wie ein Gemälde in einem Museum“, sagte der Schriftsteller Edmond de Goncourt. Von einer Besichtigung im Vatikan sind Chadwick noch die Worte einer Dame aus Nordamerika gegenwärtig – „Ich möchte jetzt aber wirklich diese Typen mit den Fingern sehen“ (Sie bezog sich auf Die Erschaffung Adams in der Sixtinischen Kapelle).

Kunstvoll reduziertes Geschehen

Es gibt auch viele „Der Schrei“-relevante Dinge, die sich auf dem Twitter-Account wiederfinden, etwa ein Bienenschwarm an einer Wand, der aussieht wie „Der Schrei“. Anfangs hat er solche Juwelen selbst aufgestöbert, inzwischen sind auch Chadwicks Follower darauf eingestiegen und schicken ihm ihre Fundstücke. Das Filmplakat von Kevin – Allein zu Haus etwa basiert auf dem Gemälde von Munch.

Seit Juli 2011 widmet sich der Account - in dem der Betreiber nicht namentlich in Erscheinung tritt - diesem gemalten Stück Weltkultur. Fast 5000 Follower bestaunen das kunstvoll reduzierte Geschehen. Als Comedian ist Twitter eine neuartige Bühne für den ironischen Iren. „Wenn es Twitter nicht gäbe, würde ich nicht Comedy machen. Twitter hat mich dazu gebracht, damit anzufangen.“

Ob er den „Schrei“ schon mal im Original gesehen habe, eine der vier Versionen des Bilds? – „Nein, hab ich noch nicht.“

Hat dir der Artikel gefallen? Jetzt teilen!

Peter Glaser

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

mehr lesen
Peter Glaser

Kommentare