Peter Glaser: Zukunftsreich

Die Nerven der Welt

Die ersten menschgemachten Netze im Morgenrot der Geschichte dienten wirtschaftlichen Zwecken. Es waren die Bewässerungsnetze der alten Ägypter und Babylonier. Mit ihrer Hilfe wurde der Staat erfunden, eine neue Form menschlicher Gemeinschaft. An Begriffen wie dem Daten-Fluss, den Empfangs-Kanälen, dem Info-Overflow sehen wir, dass sich die alten Bewässerungssysteme metaphorisch in die Moderne gerettet haben.

Heute liegen die technologischen Großleistungen im Kleinen - in der Miniaturisierung und vor allem in der Virtualisierung der mechanischen Teile, die im Lauf der Geschichte die unzuverlässigen menschlichen Teile jener Maschine ersetzt haben, die zum ersten Mal beim Pyramidenbau zu Einsatz gekommen war – der Maschine schlechthin. Der Erfolg der Digitaltechnik basiert auch darauf, dass sie das Verschleiß-Problem der Mechanik behoben hat. Mechanische Teile werden vollständig durch elektrische Ladungen ersetzt und dadurch abnutzungsfrei und auf immense Geschwindigkeiten beschleunigbar. (Man kann natürlich auch dagegenhalten und sagen, der Verschleiß sei nicht beseitigt, sondern nur virtualisiert worden. Statt Material verschleißt nun Software.)

Von der ersten zur letzten Maschine
Heute ist die Entwicklung der Netze an einem Punkt angelangt, an dem die weitere Verbreitung bloßer Computernetze nicht mehr genügt. Mit der Entwicklung der Dampfmaschine war das Eisenbahnnetz gebaut worden, danach das Stromnetz, das Telefonnetz und die landschaftsfressenden modernen Straßensysteme. Nun überzieht ein Netz aus Wissen und Ideen die Erde. Das Internet ist kein Computernetz mehr, sondern ein Menschennetz. Ein entscheidendes Element des Netzes ist allerdings immer noch Teil der alten, mechanischen Welt: der Link. Hyperlinks funktionieren nach wie vor nicht anders als eine Rohrpost: Ein Klick auf A führt nach B. Eine Entwicklung der Verbindungsmöglichkeiten ins Organische findet nicht statt. Ein simples Beispiel dafür wäre, wenn ein Link je nach Tages- oder Nachtzeit jeweils an ein anderes Ziel führen würde.

Das gute, alte globale Gehirn
Andererseits ist die Metapher des weltumspannenden Gehirns, das dem Planeten nun mit dem Netz erwachsen soll, außerordentlich beliebt. Diese neuronale Vorstellung für das Online-Universum ist schon lange vorausgeahnt worden. „Die Post und die Presse“, erklärte etwa der amerikanische Senator John C. Calhoun 1817, „sind die Nerven der Wirtschaftspolitik“. 1851 fragte sich der Schriftsteller Nathaniel Hawthorne in dem Roman „The House of the Seven Gables", ob es wirklich wahr sei, dass „mit Hilfe der Elektrizität die Welt der Materie zu einem riesigen Nerv geworden ist, der in Gedankenschnelle tausende Meilen weit schwingt? Eher ist der runde Erdball ein riesiger Kopf, ein Gehirn, Instinkt mit Verstand! Oder, sagen wir, er ist selber ein Gedanke, nichts als Gedanke, und nicht mehr die Substanz, für die wir ihn gehalten haben.“ Marshall McLuhan, der den Begriff des Globalen Dorfs prägte, schrieb in den sechziger Jahren von dem „globalen Netzwerk, das in vielerlei Hinsicht unserem Nervensystem gleicht. Unser zentrales Nervensystem ist nicht bloß ein elektrisches Netzwerk, es stellt vielmehr ein einziges, einheitliches Feld der Erfahrung dar.“

Die verführerische Noosphäre
Der umfassendste und beunruhigendste Entwurf stammt von dem Jesuitenpater Teilhard de Chardin, der in seinen Zukunftsperspektiven die Erde um eine neue Sphäre bereichert: Neben der Lithosphäre, der Hydrosphäre und der Atmosphäre konzipierte er eine weitere, die er Noosphäre nennt - einen Schleier von Geist, der sich über die Erde breitet und eine separate, zunehmend einheitliche Hülle aus Bewußtsein bildet. Er nennt diesen Prozeß die „Vereinheitlichung, Technifizierung und zunehmende Vergeistigung der menschlichen Erde“.

Obwohl seine gesamte Argumentation sich in einem biologischen Rahmen bewegt, beruht sie auf der Verneinung eines der bemerkenswertesten Charakteristika allen Lebens - der absoluten Einzigartigkeit jedes lebenden Organismus – des Individualismus. Wie sehr die Angehörigen einer Art einander auch ähneln mögen, gibt es keine zwei Exemplare, die sich völlig gleichen. Eben diese Individualität ist die Quelle der erstaunlichen Möglichkeiten des Lebens – und auch seiner unglaublichen, verblüffenden evolutionären Überraschungen. Dieses Faktum unterscheidet die lebenden Organismen von der Gleichförmigkeit und Vorhersagbarkeit präorganischer Existenz ebenso, wie von mechanischen und elektronischen Artefakten.

Das Leben ist aber keine Sammlung abstrakter Botschaften, die von einem noosphärischen Computer geordnet und programmiert werden können. Der noosphärische Trick besteht darin, das Leben auf die abstrakten Funktionen des organisierten Wissens zu reduzieren. Information wird mit Existenz gleichgesetzt. Sich das immer vor Augen zu halten, schützt vor Mißverständnissen.

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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