© Denise Balibouse, reuters

Peter Glaser: Zukunftsreich

Die Unschuld einer neuen Epoche

Als Ende der siebziger Jahre der Punk das Haupt erhob, hatte sich Dekadenz im Repertoire neuerer kultureller Ausdrucksmittel breitgemacht. Wo in den Sechzigern die naive Kraft des Rock explodiert war, herrschten nun bombastische Geschwätzigkeit und Überfeinerung. Konturlosigkeit hatte sich ausgebreitet, alles war „irgendwie". In der Musik zeigte sich das in einer immer ungehemmteren Neigung zu arabeskem Gefiedel und endlosen Soli, sei es Rockgeplapper wie das von Alvin Lee (Ten Years After), hedonistische Jazz-Selbstverwirklichungen oder Hochgeschwindigkeitsgitarrenmusik a la John McLaughlin, Paco De Lucia und Al Di Meola.

Auch das innovative Potential technischer Neuerungen wurde von dieser Schwatzhaftigkeit zugedeckt. Rick Wakeman, Organist von „Yes", mauerte sich auf der Bühne zwar förmlich mit Synthesizern und Sequencern ein. Aber statt die klare Künstlichkeit des neuen Sounds auf den Punkt zu bringen, verlor auch er sich in der Beliebigkeit von Millionen Variationsmöglichkeiten des Hubschraubergeräuschs.

Rebellion ist die Pflicht der Jugend
Für jede Generation gibt es einen Moment, in dem sie zur Unschuld einer neuen Epoche finden muß. Diesen Moment ausfindig zu machen, war Ende der siebziger Jahre schwierig. Rebellion ist die Pflicht der Jugend, aber der rebellische Gestus war längst institutionalisiert, marktgängig geworden oder zum sozialen Problem degradiert. Am 4. Januar 1977 fluchten und spuckten die Sex Pistols vor einem Counter auf dem Flughafen Heathrow herum und riefen Entsetzen hervor – zwei Tage später kündigte ihnen ihre Plattenfirma EMI. „Ich fühlte mich noch 48 Stunden später beschmutzt", zitierte der New Musical Express einen Londoner Stadtrat nach dem musikalischen Moorbad eines Sex Pistols-Konzerts. Nach Jahren gelang erneut ein wahrhaftiger Aufstand. Da war wieder die dramatische Geste, die alle bisherigen Definitionen der Welt in Frage stellte.

Etwas Pures, Hartes, Glühendes, Wütendes
Eine noch nicht zeremonialisierte, ungebändigte Sprache und Musik ließ elektronisches Adrenalin in die Medienkanäle schießen. Etwas Pures, Hartes, Glühendes, Wütendes war in die Welt gestürzt. Nur auf Krawall beschränkt, wäre Punk aber ein marginales Phänomen geblieben. „Die Kritik, die Punk schuf und im Innersten zusammenhielt”, schrieb der Musikphilosoph Diedrich Diederichsen, „war zunächst ein lange unterdrücktes und aufs ärgerlichste sublimiertes Verlangen nach Klasse, Stil und Schneid (bei den Linken als faschistoid verschrien: wenn einer zu gut aussieht). Blitzschnell, laut und hart.“

Und es gab eine besondere Gruppe, die zwar nicht zum Gattungsbegriff Punk, aber zum Geist des ganzen gehörte: Kraftwerk.

Ein Studio als Musikinstrument!
Die Musiker aus Düsseldorf (wo ich zu der Zeit lebte) waren in vielem das Gegenteil der Entwürfe, mit denen Punk aufwartete – gebügelte Hemden, glattfrisierte Köpfe. Aber ihre Musik war, obwohl es Melodien wie von Kinderliedern waren, ebenso klar und entschieden. Am 5. Dezember 1981 ging ich in die Düsseldorfer Philipshalle zu einem Kraftwerk-Konzert, das ein Erweckungserlebnis war. Die LP „Computerwelt" war gerade erschienen. Kein Trockeneisnebel. Kein buntes Scheinwerferlicht, das ziellos im Publikum herumrührte, stattdessen eine strenge Sprossenwand aus Neonröhren im Bühnenhintergrund. Und Kraftwerk hatten ihr „Kling-Klang“-Studio auf der Bühne aufgebaut. Ein Studio als Musikinstrument!

Nur suchen, ohne wirklich etwas finden zu wollen
Die bedeutendste Botschaft an diesem Abend aber ging mir erst im Lauf der folgenden Jahre ganz auf. Bereits vor den ersten PCs waren die Synthesizer aufgekommen, analoge Elektronikinstrumente, mit deren schierer Soundfülle das nahende Informationszeitalter bereits seine Schatten vorauswarf. Ich kenne die Schwierigkeiten, vor die einen eine Maschine stellt, die vor Milliarden von Klangoptionen förmlich trieft. Gleichzeitig mit dem Bartwuchs setzte damals in jedem jungen Mann der unbezähmbare Wunsch ein, einen Korg MS-20 zu besitzen, den Volkswagen unter den Synthis. Ich wohnte mit einem Musiker zusammen und setzte mich gelegentlich an ein solches Gerät. Ein Ton war interessanter als der andere. Ich war immer nur am Suchen. Nachdem ich mich wochenlang durch Klangfilter, Oszillatoren und Frequenzmodulatoren hindurchgewubbert hatte, trat ein nervöser Klangüberdruß ein. Ich fühlte, dass ich den idealen Klang nie finden würde. Nur suchen, ohne wirklich etwas finden zu wollen - dieses Problem hat heute mit Google eine ganz neue Dimension erreicht.

Der schönste Klang
Kraftwerk machten mir aber schon damals klar, wie man aus dem unüberschaubar Vielen das Richtige wählt. Wie man souverän bleibt gegenüber den Maschinen. Diese paar Töne möchte ich, die anderen 100 Millionen können Sie wieder mitnehmen, vielen Dank. Zu dieser Entscheidungsfähigkeit inspiriert, machte ich mich bestens ausgestattet auf den Weg in die digitale Welt. Keine Maschine kann und soll uns dabei helfen, zu entscheiden, welcher Klang der Schönste ist. Dieser Ton ist es, dieser Akkord. Dies ist die Entscheidung. Das ist der Mensch. Das war das Wunderbare an der Musik von Kraftwerk.

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Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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