Daher besser im Querformat bleiben ;)
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© Martin Stepanek

Entwicklerversion

Zwiespältige Bilanz: Windows 8 im Test

Beim zur Verfügung gestellten Tablet handelt es sich im Wesentlichen um einen Slate PC Series 7 von Samsung, der noch im Herbst mit Windows 7 in den Handel kommen soll. Die Bezeichnung "Slate" deutet darauf hin, dass sich unter der Haube ein vollwertiger Computer befindet. Neben einem Intel Core i5 Prozessor weist das Gerät vier Gigabyte DDR3-RAM und eine 64 Gigabyte SSD-Platte auf. Der Touch-fähige Screen misst 11,6 Zoll bei einer Auflösung von 1366 mal 768 Pixel. Neben einem Bluetooth-Keyboard war auch  ein Touch-Pen beigepackt.

Das Einrichten der Developer-Version von Windows 8 dauerte wenige Augenblicke. Nach dem Durchwinken von Lizenzbedingungen muss der Name des Computers gewählt werden. Wer will kann sofort die Internet-Einstellungen vornehmen. Nach der Bestätigung der Express-Einstellungen und der Wahl des User-Namens landet man direkt auf der neuen Windows 8 Oberfläche mit den Applikations-Kacheln. Beim Slate passen drei Reihen auf den Bildschirm, bei größeren Bildschirmen werden mehrere Reihen untereinander dargestellt.

Touch und Maus mit Tücken
Microsofts nobler Ansatz, die Bedienung sowohl mit Touch, aber auch mit der Maus zu ermöglichen, erweist sich in der Umsetzung allerdings als Tücke. Denn Microsoft hat sich in der nun vorliegenden Version von Windows 8 entschieden, das Aufrufen elementarer Funktionen per Maus oder Touch unterschiedlich zu gestalten. Um zur Einblendung des gewohnten Windows-Icons zu gelangen, mit dem man früher Programme, Dokumente und andere häufig verwendete Funktionen aufrufen konnte, muss der Mauszeiger in die linke untere Ecke bewegt werden. Dort erscheint das neue, abgespeckte Hauptmenü, das neben dem Windows Start-Button noch die Funktionen "Suche", "Teilen", "Geräte" und "Einstellungen" beherbergt.

Langjährige Windows-User werden in der Touch-Variante zunächst wohl verzweifeln. Tippt man die untere linke Ecke an, passiert nämlich genau gar nichts. Denn Microsoft sieht für die Touch-Bedienung vor, dass man mit dem Finger vom rechten Bildschirm-Rand nach links wischt. In der Praxis funktioniert die Wischbewegung leider nicht immer. So kommt es immer wieder vor, dass man statt der Menü-Einblendung den App-Stream verschiebt.

Der Desktop ist tot - es lebe der Desktop
Ein Klick auf das Start-Icon führt verzweifelte Windows-User endlich auf den bekannten Desktop, der in der Vorversion im Stil von Windows 7 gehalten ist. Das Aufatmen wird allerdings nur kurzer Dauer sein. Klickt man unten wie gewohnt auf das Start-Icon landet man sofort wieder auf der neuen Oberfläche mit den Metro Style Apps. Spätestens zu diesem Zeitpunkt werden besorgte Väter und Mütter ihre Kinder anrufen und um Hilfe bitten. Da es sich um die Entwickler-Vorabversion handelt, könnte Microsoft dies aber noch ändern. Bleibt Windows 8 auch in der Business-Version so wie es ist, können sich EDV-Abteilungen auf überlastete Hotlines gefasst macht.

Die Entscheidung, sich derart radikal von der bekannten Desktop-Bedienung zu verabschieden, verdient Respekt. Nicht selten fragt man sich beim Kennenlernen von Windows 8 allerdings, ob Microsoft in mancherlei Hinsicht nicht zu viel gewollt hat. Die beiden komplett unterschiedlichen Parallelwelten in Windows 8 - die neue Metro Style Oberfläche und der funktionell beschnittene Desktop prallen immer wieder aufeinander. Und nicht immer ist Microsoft im Umgang damit konsequent.

So kann man bei der installierten Metro-Oberfläche etwa den Windows Explorer aufrufen und landet sogleich auf der alten Desktop-Oberfläche. Abgesehen vom visuellen Schock, der einen nach dem Wechsel von der neuen in die alte Windows-Welt befällt, ist die schöne Touch-Bedienung hiermit zuende. Wie bei Windows 7 muss man sich mit dem Finger durch kleine Menüs und Icons hanteln. Mit der Maus funktioniert dies zwar tadellos, für reine Tablet-User sollte sich Microsoft aber überlegen die alte Desktop-Oberfläche anzupassen bzw. weitere Metro Style Apps zu programmieren, welche die Touch-Bedienung vereinfachen.

Programme starten schwer gemacht
Wer auf dem alten Desktop nach Programmen bzw. einem Programm-Menü sucht, wird lange suchen. Hat man also auf dem Desktop Applikationen offen und will weitere aufrufen, muss man wieder zur Metro Style Oberfläche zurück. Alternativ kann man mit der Maus oder dem Finger aus dem Desktop heraus das Menü aufrufen und auf Suche klicken. Tippt man den Namen des Programms ein, kann man so relativ problemlos wechseln. Da die überwiegende Mehrzahl der Programme zunächst aber weiterhin Desktop-Programme sein werden, ist es mehr als verwunderlich, warum Microsoft nicht die Option anbietet, dass man Desktop-Programme auf dem Desktop als Icons ablegt. Es bleibt abzuwarten, ob Microsoft das noch ändert.

Wie radikal Microsofts Ansatz ist, merkt man aber auch auf der Metro Style Oberfläche. Denn auch hier gibt es keine Programmordner im herkömmlichen Sinn. Wer ein Programm aufrufen will, muss dies über die neue Suchfunktion tun. Mittels Tastatur ist dieser Schritt insofern vereinfacht, da man ohne irgendwo hinzuklicken nur den Namen des Programms eingeben muss und automatisch in der Suchliste landet. Das ist insofern praktisch, da schon bei der Eingabe eines Buchstabens die möglichen Programme angezeigt werden.

Schöne neue Windows-Welt
Hat man den ersten Schock hinsichtlich des entmachteten Desktops verdaut, lädt die neue Windows-Welt zum Erkunden der schönen Metro-Style-Apps ein. Der neue Start-Screen ist bunt, wirkt aber aufgeräumt und elegant. Die Versuchung auf eines der überdimensionierten Icons zu klicken ist groß. Der aus dem Bildschirm ragende zweite Block mit Apps suggeriert, dass das Band noch weitergeht. Das Scrollen mit dem Finger nach rechts und links läuft absolut flüssig und schnell. Dieselbe Aktion mit dem Scrollrad der angeschlossenen Maus ist hingegend lähmend. Vielleicht liegt`s an den Mauseinstellungen.

Beim Umarrangieren der Tiles, wie Microsoft die Programm-Kacheln im Englischen nennt, zeigt sich hingegen genau das umgekehrte Bild. Mit dem Finger ist es ein kleines Geduldspiel die Oberflächen zu verschieben, während die Maus diese Aufgabe präzise und problemlos erledigt. Anders als Apple muss man zum Verschieben der Kacheln nicht auf dieser kurz verweilen, sondern sie von oben nach unten ziehen. Lässt man ohne Verschieben los, wird unten eine Leiste eingeblendet, die das Vergrößern und Verkleinern der App-Oberfläche sowie die Deinstallation und Entfernung der App anbietet.

Entwickler-Version von Windows 8 eingeschränkt
Spätestens bei diesen Spielereien wird klar, dass es sich bei der freigeschalteten Developer Version von Windows 8 um eine frühe Variante handelt. Denn der auf der Konferenz gezeigte semantische Zoom, mit dem man schnell zwischen einzelnen Programmblöcken hin- und herwechseln kann, fehlt. Mit einiger Übung schafft man hingegen per Touchbedienung eine App aufzuklauben und mit der zweiten Hand die anderen Apps darunter wegzuschieben. Das soll helfen, um Apps von ganz hinten im Stream nach vorne zu verschieben oder umgekehrt. Mit der Maus war diese Möglichkeit hingegen nicht vorhanden.

Im App-Umfang hat Microsoft bei dieser Entwicklerversion von Windows 8 aber ebenfalls noch gespart. Eine Reihe von bereits gezeigten, vielversprechenden Metro Style Apps, wie Mail- und Bildprogramm, Kalender oder Medienplayer sind noch nicht freigeschaltet. Das ist insofern schade, da einige Funktionen, wie das  Teilen von Informationen, Bildern und Dateien direkt aus Metro Style Apps heraus ohne die entsprechenden Programme sehr beschränkt ist.

Große Kluft zwischen Desktop-Programmen und Apps
Bei der Beschäftigung mit den neuen Apps, die ganz nach Tablet- und Smartphone-Vorbild ohne störende Menürahmen und überfrachtete Bedienelemente gestaltet sind, wird einmal mehr deutlich, wie groß die Kluft zwischen der mobilen App-Welt auf Tablets und Smartphones zu der herkömmlichen Desktopwelt geworden ist. Windows-User, die mit der neuen Welt noch nicht in Berührung gekommen sind, werden zunächst mit Sicherheit einen visuellen Wow-Effekt erleben. Die reduzierte Menüführung wird allerdings auch für heftige Irritation sorgen.

Denn solange man der Programm-Logik folgt und Text-Links, Menüschaltflächen und Bilder wie in einem Browser aufruft, geht alles gut. Spätestens beim Wunsch, das Programm wieder zu verlassen, muss man jetzt umdenken. Apps werden nicht mehr im herkömmlichen Sinne geschlossen, Inhalte nicht mehr manuell gespeicht. Vielmehr wechselt man wieder zum Start-Menü oder zu einem anderen offenen Programm. Und jetzt wirds für Einsteiger von Windows 8 etwas kommpliziert.

Steuerung: Wischen, Klicken, Wischen, Alt + Tab
Wischt man mit dem Finger oder der Maus vom linken Bildschirmrand nach rechts, können die anderen offenen App-Oberflächen mit Ausnahme des Start-Screens hereingezogen werden. Hat man viele Apps offen, erweist sich das Wechseln allerdings als Lotteriespiel. Welche App gerade als nächstes erscheint, erschließt sich dem User nicht wirklich. Will man App-Oberfläche Nummer sechs aus dem Hintergrund aufrufen, muss der Vorgang sechs Mal wiederholt werden. Abhilfe schafft diesbezüglich ironischerweise nur die Tastenkombination Alt + Tab, von der die Mehrzahl der Windows-User wahrscheinlich noch nie gehört hat.

Um auch im Metro Style Modus produktiver arbeiten zu können, hat Microsoft einen geteilten Bildschirm vorgesehen. Zieht man eine geöffnete App-Oberfläche nur ein Stück weit von links herein, wird diese am linken Rand fixiert. Dass die Platzierung auch nach rechts verändert werden kann, ist mittels Touch und Maus erneut unterschiedlich gelöst. Während man in der Touchbedienung die beiden Fenster durch Klicken auf die Trennlinie verändern kann, bietet der Rechtsklick mit der Maus eine automatische Verschiebung der kleineren Programmoberfläche an den rechten Seitenrand.

Neben dem Aufrufen der Menüschaltfläche gibt es in den neuen Programmen eine zweite wesentliche Steuerungsoption, die unerfreulicherweise erneut für Maus und Touch auf verschiedene Weise  gelöst ist. So kann man weitere Menüfunktionen in einer Metro Style App aufrufen, indem man mit dem Finger am oberen Bildschirmrand nach unten bzw. am unteren Bildschirmrand nach oben wischt. Denselben Effekt erreicht man per Maus jedoch nicht per Randberührung, sondern mittels Rechtklick. Dann poppt unten eine Leiste auf, die weitere App-Funktionen anzeigt.

Lernkurve wegen Maus und Touch doppelt groß
Das Aufzeigen dieser Bedienungsunterschiede mag kleinlich wirken. In der Praxis,  wenn Touch, Maus und Keyboard - wie von Microsoft kräftig beworben - gleichberechtigt eingesetzt werden, verwirrt die Steuerung auch nach drei Tagen Benutzung sehr. Nicht selten fährt man mit der Maus dorthin, wo der Finger sich als erfolgreich erwiesen hat und umgekehrt. Gewisse Rechtsklick-Optionen sucht man mit der Touch-Bedienung zudem vergeblich. Eine Vereinheitlichung des Steuerungskonzepts wäre hinsichtlich der ohnehin schon großen Lernkurve absolut empfehlenswert.

Als größte Schwäche des grundsätzlich sehr flüssig und schnell zu bedienenden Systems sticht in der Vorabversion von Windows 8 ausgerechnet das Wechseln zwischen Programmen hervor. So sehnt man sich nach einiger Zeit im Metro Style Modus eine Menüleiste herbei, in der alle offenen Programme - seien es nun Desktop- oder Metro-Apps - sichtbar sind. Eine derartige Funktion mag im Verborgenen existieren, gefunden wurde sie auch nach drei Tagen Windows 8 nicht. Die Tastenkombination Alt + Tab kann für den Mainstream-Markt jedenfalls keine Lösung darstellen. Es bleibt abzuwarten, was sich diesbezüglich bis zur Beta- und Finalversion von Windows 8 noch tut.

Fazit: Revolution mit Absturzpotenzial
Im 72-Stunden-Test macht Windows 8 definitiv Lust auf mehr. Viele Entscheidungen, die Microsoft hinsichtlich der Steuerung gefällt hat, sind mutig bis revolutionär, könnten im schlimmsten Fall aber auf den Konzern zurückfallen und User hilflos zurücklassen. Vor allem Unternehmen werden sich doppelt überlegen, ob sie bei der Experimentierfreudigkeit von Microsoft mitmachen. Das ehrgeizige Vorhaben, User vom herkömmlichen Windows-Desktop wegzubekommen, lässt Microsoft manchmal übers Ziel hinausschießen. Solange diese Parallelwelt - noch dazu mit einer überwiegenden Mehrheit von Programmen - existiert, kann es keine Lösung sein, den Desktop wie eine App unter vielen zu behandeln und dessen Funktionalitäten zu beschneiden.

Bis zur Veröffentlichung von Windows 8 muss Microsoft die Überaufgabe schaffen, die eingeschlagenen Weg in eine geordnete Bahn zu lenken. Einige Ansätze sind interessant und innovativ, andere sorgen derzeit noch für große Frustration. Angesichts der Präsentationen in Anaheim ist klar, dass Windows 8 weit mehr ist, als nur eine neue ambitionierte Bedienoberfläche. Neue Funktionen wie das einfache Teilen von Informationen und Bildern mit Usern und sozialen Plattformen, die stärkere Einbindung von Cloud-Services sowie die synchrone Nutzung der eigenen Computerumgebung auf mehreren Geräten könnten das Computer-Zeitalter nachhaltig verändern. Ob Microsoft die Revolution schon mit Windows 8 gelingen wird, muss sich allerdings erst zeigen.

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Martin Jan Stepanek

martinjan

Technologieverliebt. Wissenschaftsverliebt. Alte-Musik-Sänger im Vienna Vocal Consort. Mag gute Serien. Und Wien.

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