Feinschnitt des Gehirns
Feinschnitt des Gehirns
© Amunts, Zilles, Evans et al.

Forum Alpbach

"Ein Gehirn-Scan braucht vier Petabyte an Speicherplatz"

Unser Verständnis der Funktionsweise des Gehirns hat sich in den vergangenen Jahrzehnten drastisch geändert. Seit den ersten Einteilungen in wenige funktionale Areale, die auf mikroskopischen Untersuchungen der Gehirne Verstorbener beruhten, hat sich gezeigt, dass Geirne weitaus komplexer sind, als bislang angenommen, "Heute können wir die Verteilung der Nervenzellen in der Hirnrinde messen und einzelne Areale nach der Zelldichte einteilen. Wir haben dabei entdeckt, dass sich die Größe und Lage der Areale auch zwischen Individuen deutlich unterscheiden kann", erklärte Katrin Amunts, Direktorin des Instituts für Neurowissenschaft und Medizin am Forschungszentrum Jülich im Rahmen einer Plenarveranstaltung beim Forum Alpbach.

Karte der der Hirnareale
In Jülich wirdmit dem Jubrain Atlas ein 3D-Modell des Gehirns erstellt, das zeigt, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein gewisses Hirnareal an einer bestimmten Stelle liegt. Grundlage sind Untersuchungen einer Vielzahl von Patienten.Mit Big Brain haben Amunts und ihre Kollegenauch eines der genauesten Gehirnmodelle erstellt, das es je gegeben hat. Aus 7.400 je nur 20 Mikrometer dicken Gewebeschnitten einer Spenderin ist eine Karte mit einer räumlichen Auflösung entstanden, die sogar die Darstellung einzelner Nervenzellen erlaubt. "Das Hirn ist auf verschiedenen Ebenenen organisiert, vomÅngström- bis in den Zentimeterbereich. Wir nutzen Mikroskope, bildgebende Verfahren, genetische Untersuchungen und Simulationen, um das aufzuschlüsseln", erklärt Amunts.

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Lage der Nervenzellen
Unter anderem haben die Forscher Hirnschnitte zwischen zwei Polarisationsfilter gelegt und dieses Arrangement vor einer Lichtquelle positioniert. Durch die Struktur des Myelinmantel von Nervenfasern, die Licht auf spezielle Art bricht, lässt sich so die Lage der Nervenfasern ermitteln. "Das ist extrem aufwendig. Ein einzelner solcher Scan dauert viele Stunden, die Daten eines Gehirns brauchen vier Petabyte an Speicherplatz", so Amunts. Zur Auswertung ist entsprechend viel Rechenleistung notwendig. Die Struktur des Hirns ist damit aber noch lange nicht entschlüsselt. "Ein Hirn hat 86 Milliarden Nervenzellen, dazu kommen noch einmal so viele Gliazellen. Die Vernetzung ist unfassbar komplex. Unsere neue Karte zeigt, dass es nicht nur ein Sprachzenturm gibt, sondern eine ganze Reihe von Arealen, die daran beteiligt sind", sagte Amunts.
Lage der Nervenzellen
Was die Funktionsweise des Hirns angeht, ist das Wissen weit geringer als bei der Struktur. Forscher gehen davon aus, dass das Denken nicht Prozesse im Hirn verändert, sondern durch diese entsteht. "Wir gehen davon aus, dass alle mentalen Funktionen die Folge neuronaler Prozesse sind, und nie deren Ursache. Zudem wissen wir, dass die Verwaltung des Hirns in seiner Verschaltung organisiert ist. Es gibt keine Trennung zwischen Speicher und Prozessor", erklärte Wolf Singer, ehemaliger Direktor desMax Planck Instituts für Hirnforschung, in Alpbach. Die Vorgänge im Gehirn gehorchen zwar den bekannten Naturgesetzen, die Funktionsweise lässt sich daraus aber nicht einfach ableiten. "Wir wissen viel über die Verschaltung von Hirnbereichen und die Aufgaben der Regionen, aber wenig darüber, wie kognitive Funktionen durch Interaktion dieser Teile entstehen", sagte SInger.

Dezentral organisiert

Ein Zentrum, in dem die Persönlichkeit oder das Ich sitzt, gibt es laut derzeitigem Kenntnisstand nicht. "Es gibt keine Kontrollinstanz. Die Funktionen sind auf das ganze Hirn verteilt. Rund 120 komplex verschaltete Hirnareale arbeiten ständig parallel", so Singer. Zwischen manchen Hirnregionen sind 60 Prozent der theoretisch möglichen Verbindungen realisiert, was eine unglaubliche Zahl an Querverknüpfungen bedeutet. Trotzdem lassen sich bei komplexen Prozessen wie der Wahrnehmung keine eindeutigen Zentren finden. "Sieht eine Person einen Hund, gibt es kein Zentrum im Hirn, in dem dieser eindeutig identifiziert wird. Stattdessen entsteht aus den verschiedenen, räumlich getrennnten Arealen, die einzelne Eindrücke verarbeiten, ein Muster neuronaler Aktivität, das als Hund interpretiert werden kann", erklärte der Experte.

Daraus ergibt sich das Problem, dass bei mehreren parallel zu verarbeitenden Eindrücken die Trennung problematisch wird. Welcher Prozesse zu einer bestimmten Wahrnehmung gehören, ist schwierig zu filtern. "Das ist das sogenannte Bindungsproblem: Wie trenne ich mehrere Wahrnehmungen in den Schaltzuständen des Gehirns", sagte Singer. Die Lösung scheint in der zeitlichen Darstellung zu liegen. Areale, die zusammengehörende Informationen bearbeiten, synchronisieren ihre elektrischen Impulse. "Alle Aktivitäten im Hirn haben eine zeitliche Struktur, die Netzwerke oszilieren mit ein bis 120 Hertz und können über Entfernungen hinweg synchronisiert werden", so Singer. Kognitive Prozesse funktionieren also ähnlich wie Musik, die nach Tönen getrennt werden kann. Diese Einsicht stelle einen Paradigmenwechsel in der Neurobiologie dar, sagte Singer.

Bis vor nicht allzu langer Zeit sind die Wissenschaftler davon ausgegangen dass das Hirn eine reine Reiz-Reaktionsmaschine sei. "Heute sehen wir es als dezentrales, selbstorganisiertes System, das sich in der Zeit entfaltet. Das Hirn ist zeitlich sehr präzise organisiert", so der Hirnforscher. Persönlichkeit, Denken und andere kognitive Prozesse wären demnach zu jedem Zeitpunkt nur in den flüchtigen Schaltzuständen zwischen den Neuronen realisiert. Es gibt erste Hinweise darauf, dass es sich bei schizophrenen Erkrankungen um eine Störung der zeitlichen Synchronisation zwischen Hirnarealen handeln könnte. "Wenn wir unser Verständnis vertiefen können, besteht vielleicht die Hoffnung auf andere Diagnostik und langfristig eventuell sogar Therapie", sagte Singer.

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Markus Keßler

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