Wie schafft man es, dass Zugreisende immer einen Sitzplatz haben?
Zu Hauptreisezeiten kann es im Zug ganz schön voll werden. Die Tatsache, dass man selbst mit gültigem Ticket manchmal am Gang stehen muss oder wegen Überfüllung sogar zum Aussteigen gezwungen wird, bringt viele Bahnreisende zur Weißglut. Zumindest unverständlich ist es auch, wenn man Sitzplatzreservierungen vornehmen will, die Züge angeblich rappelvoll sind, im Endeffekt aber nur zur Hälfte gefüllt sind. Wie könnte man sicherstellen, dass es nicht zu solchen Situationen kommt? Gibt es bessere Wege, Sitzplätze auf Zügen zu vergeben?
Offene und geschlossene Systeme
Zunächst einmal muss man zwischen offenen und geschlossenen Sitzplatzvergabesystemen unterscheiden. "In geschlossenen werden nur genau soviele Menschen mitgenommen, wie Plätze vorhanden sind. Die Auslastung kann nie über 100 Prozent liegen", erklärt Michael Frankenberg, der Leiter der Business-Unit Software bei Siemens Mobility.
In Österreich, wie auch in Deutschland und der Schweiz, seien offene Systeme vorherrschend. Hier fahren sowohl Passagiere im Zug mit, die sich ein Einzelticket gekauft haben, als auch solche, die Jahreskarten oder ein Klimaticket besitzen. Hier ist es schwieriger, genaue Vorhersagen darüber zu treffen, wie viele Menschen in einem Zug mitfahren. "Die Auslastung kann dann auch mal 150 Prozent betragen", sagt Frankenberg.
Federung erkennt Menge der Passagiere
In offenen Systemen gehe es darum, möglichst genaue Angaben über den Besetzungsgrad eines Zuges zu erhalten und Passagiere bestmöglich auf alle vorhandenen Züge und Sitzplätze zu verteilen. Für letzteren Punkt seien dynamische Preise ein gutes Mittel, meint Frankenberg. "Viele Leute sind eher preissensibel als zeitsensibel. Wenn sie ihren Zug zu bestimmten Zeiten nehmen, können sie dadurch sparen. Bahnunternehmen vermeiden wiederum Leerfahrten damit." Die Preisgestaltung in Zügen hänge aber oftmals auch von politischen Entscheidungen ab. In Kombination mit Dingen wie einem Klimaticket seien dynamische Preise schwierig umzusetzen.
In jedem Fall wichtig ist eine genaue Vorhersage, wie voll ein Zug sein wird. "Keiner möchte in einen Zug steigen, der supervoll ist", sagt Frankenberg.
Wie ermittelt man den Besetzunggrad eines Zuges? Einerseits durch Online-Dienste wie eine Fahrplanauskunft, erklärt der Experte. "Über die Anfragen können wir sehen, wie die Leute fahren wollen. Außerdem ziehen wir in unsere Prognosen Faktoren wie die Tageszeit oder große Veranstaltungen mit ein." In den Wagons werde die Auslastung über Sensoren live gemessen. Die Luftfederung erkennt etwa, wieviel Masse in einem Wagon ist. Eine andere Möglichkeit wäre der Einsatz von Kameras im Wageninneren.
Besetzungsgrad in der App anzeigen
Ist der Füllstand bekannt, sollte diese Information an Zugreisende weitergegeben werden. Bei der Buchung ist dann etwa bereits erkennbar, wie voll ein Zug ist. "Es ist wichtig, das pro Wagon zu machen, damit die Fahrgäste so verteilt werden, dass der Fahrgastwechsel möglichst schnell abläuft. Staus an einzelnen Türen sind einer der Hauptgründe für Verspätungen", sagt Frankenberg.
Indikatoren wie 1, 2 oder 3 kleine Menschensymbole oder farbliche Kennzeichnungen in einer Buchungs-App seien der übliche Weg, um den Besetzunggrad anzuzeigen. "Information hilft, das Richtige zu tun. Das funktioniert wie beim Routing am Navi, wo man einem Stau ausweicht."
Nix mit "ggf. reserviert"
Die wichtigste Methode, um Bahnreisenden Sitzplätze am Zug zu sichern, ist das Reservierungssystem. Während man in Zügen heute oftmals noch auf eine etwas unklare Reservierungssituation stößt, etwa durch das bekannte "gegebenenfalls reserviert", gehe der Trend ganz klar zu dynamischen Systemen in der Cloud, sagt Frankenberg. Durch sie können Reservierungen und Änderungen daran in Echtzeit angezeigt werden. "Wenn man eine Umbuchung vornimmt und in einen anderen Zug wechselt, werden die Sitze sofort wieder freigegeben." Das sei auch von Vorteil, wenn es darum gehe, Sitze nur für Teilstrecken zu reservieren. "Die Kunst im Reservierungssystem ist es, dafür zu sorgen, einen Sitzplatz so oft wie möglich zu verkaufen."
Dabei komme es auch stark auf die Lage des Sitzplatzes an. Er muss auch im Zug an einer geeigneten Stelle liegen, die z.B. einen möglichst unkomplizierten Umstieg ermöglicht. "Anschlüsse müssen sauber koordiniert sein. Wenn etwa eine Reisegruppe, die auf einen Fahrstuhl angewiesen ist, in einem Bahnhof von Gleis 7 auf Gleis 4 wechseln muss, und sich der Fahrstuhl in Abschnitt E befindet, dann macht es keinen Sinn, die Gruppe im Abschnitt A zu platzieren." Im besten Falle seien die Plätze so reserviert, dass beim Umsteigen nur ein Bahnsteig auf direktem Weg überquert werden muss.
Umbuchungen im Zug ermöglichen
Umbuchungen können mit einem dynamischen Reservierungssystem auch während der Fahrt vorgenommen werden. Eine Möglichkeit wäre etwa, in einem sehr vollen Zug ein Upgrade auf einen Sitz der 1. Klasse vorzunehmen. "Oder wenn einer älteren Person in einem Wagon zu kalt ist. In der App sieht sie dann, dass es im nächsten Wagon ein Grad mehr hat, und ändert ihre Reservierung auf einen Sitzplatz dort um. Sie kann dann dorthin gehen ohne Gefahr zu laufen, dass ihr jemand in der Zwischenzeit den Platz wegnimmt."
Wenn möglichst viele Fahrgäste reservieren, lässt sich auch die Auslastung des Zuges genauer bestimmen. Aber wäre es dann nicht sinnvoll, Reservierungen kostenlos anzubieten? "Ja und nein", meint Frankenberg. "Ich sammle dadurch dann zwar vielleicht mehr Daten, dafür reservieren Kunden dann gleich Sitzplätze in 3 Zügen. 'No-Shows' sind das Schlimmste. Man muss Überreservierungen vermeiden." Im Nahverkehr könnte man aber überlegen, Reservierungen zu einem moderaten Preis einzuführen. Das Klimaticket könnte man mit einer gewissen Anzahl von kostenlosen Reservierungen verbinden.
Weniger Chaos, dichtere Intervalle
Verbesserungen bei der Vergabe von Sitzplätzen in Zügen würden schlussendlich nicht nur Bahnfahrer*innen, sondern auch den Bahnunternehmen nützen, sagt Frankenberg. Verlässliche Planung mache es möglich, Zeitfenster auf der Strecke effizienter zu verteilen und mehr Züge einzusetzen. "Das Endkund*innensystem ist nur die Spitze des Eisberges. Prozesse zu automatisieren, das ist der Hauptteil, der dafür sorgt, dass der Bahnverkehr rund läuft und Kund*innen verlässliche Informationen bekommen."
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