WeChat: Die Freiheit im digitalen Hinterzimmer
Liang Jingxiang ist 16 Jahre alt und lebt im Perl River Delta in Südchina, der reichsten Region des Landes, nahe der Megacity Guangzhou. Samstags kommt sie in das Kulturzentrum von Bei Jiao, einer Vorzeige-Kleinstadt in der Provinz Guangdong, um in der Bibliothek für bevorstehende Semesterabschlussprüfungen zu lernen. “Hast du WeChat?”, ist die erste Frage von Liang, nachdem sie sich und ihre Freundinnen mit den österreichischen Journalisten, die das Kulturzentrum besuchen, fotografieren hat lassen. Smartphones werden herumgereicht, ein QR-Scan mit den jeweiligen Nutzerprofilen reicht aus, und schon sind neue virtuelle Kontakte geknüpft.
WeChat, das ist zurzeit die dominierende, angesagte Online-Plattform in China. 594 Millionen aktive Nutzer zählt die mobile App, die sich am ehesten mit WhatsApp vergleichen lässt, weltweit. Die Mehrheit der Accounts stammt aus China, aber auch in anderen asiatischen Ländern breitet sich der Dienst derzeit verstärkt aus.
“Wir bieten einen ganz neuen Lifestyle an”, sagt Stephen Wang, Senior Product Manager bei WeChat, das zum Großkonzern Tencent gehört und einen 1000 Mitarbeiter starken Standort in Guangzhou betreibt. Die Räumlichkeiten, die sich über ein Campus-artiges Areal von mehreren Backsteinbauten erstrecken, erinnern stark an den typischen Start-up-Charakter wie man ihn aus dem Silicon Valley kennt. Die Mitarbeiter sind vorwiegend jung, die Büros bunt dekoriert, es gibt jede Menge gemütliche Lounges, eine Cafeteria und schick designte Meetingräume.
Mehr als ein Messenger
Außerhalb Chinas fungiert WeChat, das im Jahr 2010 an den Start ging, vor allem als Messaging-Service. In China allerdings wurde der Dienst inzwischen mit zahlreichen Zusatzfunktionen ausgestattet, die eine immer breiter werdende Palette an Nutzerbedürfnissen abdecken sollen. “Wir haben zum Beispiel das Projekt Voice Donor ins Leben gerufen. Dabei können Bücher via WeChat für Blinde vorgelesen werden”, erklärt Wang, der in den USA aufgewachsen ist.
“Im Zentrum steht für uns natürlich die Kommunikation, aber wir bauen auch immer neue Plattformen um diese Kernfunktion herum”, so Wang. Ein wichtiger Bereich ist der integrierte Bezahldienst von WeChat. Wer sich mit seiner Kreditkarte registriert, kann bequem Geld and seine Freunde bzw. Kontakte verschicken. Das funktioniert so simpel wie das Versenden einer Chat-Nachricht. Auch einen sogenannten Wealth Fund gibt es, bei dem Nutzer Geld einfach in Produkte investieren können. “Die Leute bekommen bei uns höhere Zinsen als bei herkömmlichen Investments”, sagt Wang. Die Sicherheit beim Geldtransfer wird mittels Fingerprints gewährleistet.
Seit kurzem gibt es über WeChat auch ein Angebot namens “City Services”. In ausgewählten Städten werden teilweise E-Government-Funktionen zur Verfügung gestellt, es gibt Infos zu Verkehr und Wetter, Schüler können ihre Zeugnisse abrufen, Führerscheine online beantragt werden, etc. “Wir wollen den Usern alles unter einem Dach anbieten, sodass nur eine Registrierung für all diese verschiedenen Services nötig ist”, sagt Wang. Dabei arbeitet WeChat mit Drittfirmen und den städtischen Behörden zusammen.
Die Masse aufgeteilt in kleine Gruppen
Nicht unwesentlich für den Erfolg von WeChat ist auch die Struktur der Plattform, die auf Halböffentlichkeit setzt. Denn öffentliche Online-Diskussionen, wie sie zunächst in Facebook-ähnlichen Netzwerken wie Weibo möglich waren, wurden in China in den vergangenen Jahren zunehmend eingeschränkt. Auch die öffentliche Posting-Funktion von WeChat gibt es nicht mehr – Beiträge können seit einiger Zeit nur mehr mit den persönlichen Kontakten geteilt werden. Auf WeChat tauschen sich die Nutzer nun einzeln oder in Gruppen mit Freunden aus und erhalten dort ein Stück weit „Freiheit“ im semi-privaten Raum. So boomt WeChat als mobiler Tummelplatz im kleinen Kreise, Diskussionen finden im digitalen Hinterzimmer statt, während die breite öffentliche Debatte unterdrückt wird.
Offiziell äußern will man sich dazu bei WeChat naturgemäß nicht, auch ein Problem mit der Meinungsfreiheit gibt es laut Wang nicht. “Die Chinesen sind ein soziales und diskursfreudiges Volk.” Man könne sich über alles unterhalten.
Konkurrenz muss draußen bleiben
WeChat, das in wenigen Jahren explosionsartig gewachsen ist, spiegle mittlerweile die gesamte Masse an Smartphone-Nutzern in China wider. “Wir sind inzwischen Mainstream”, sagt Wang. In Zukunft will das Unternehmen seine Zusatzservices auch auf internationaler Ebene anbieten und seine Reichweite auf der ganzen Welt ausbauen.
Angesprochen auf internationale Wettbewerber wiegelt Wang Vergleiche mit WhatsApp und Co ab. “WeChat ist sehr eigenständig, wir vergleichen uns nicht mit anderen Apps und Services.” Die Zusatzfunktionen machen laut dem Manager weit mehr aus WeChat als einen bloßen Messenger. Das mag für China natürlich zutreffen, dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich der Dienst innerhalb des Landes relativ leicht tut zu wachsen. Immerhin sind Facebook, Twitter, Google und andere internationale Plattformen offiziell gesperrt und nur über Umwege wie VPN zu erreichen. Das hat zunächst einmal politische Motive, aber hilft chinesischen Internetfirmen auch wirtschaftlich.
Disclaimer: Die Reisekosten wurden zum Teil von der All China Journalists Association und zum Teil von der futurezone selbst getragen.