Ein Spielzeugauto erklärt den Aktienmarkt
Stellen wir uns vor, wir haben ein ganz simples Spielzeugauto. Vorne hat es 2 Räder, die elektrisch angetrieben werden. Außerdem verfügt es über ganz simple Sensoren – zum Beispiel über einen Temperaturfühler oder einen Lichtsensor.
Nun kann man die Sensoren mit den Rädern koppeln. Man kann zum Beispiel ein Spielzeugauto bauen, bei dem sich ein Rad langsamer dreht, wenn es hell angeleuchtet wird. Somit fährt das Auto eine Kurve und bewegt sich ganz automatisch Richtung Lichtquelle – ein Verhalten, wie wir es von manchen Insekten kennen. Man kann Sensoren und Räderantrieb auch so koppeln, dass das Auto dem Licht entflieht, oder sich dorthin bewegt, wo es warm ist.
Scheinbar intelligent
Die Idee stammt vom italienischen Forscher Valentino Braitenberg, diese simplen Fahrzeuge werden daher „Braitenberg-Vehikel“ genannt. Das Interessante an ihnen: Ihr Verhalten beruht zwar nur auf äußerst einfachen Regeln, wirkt auf den ersten Blick oft aber erstaunlich komplex, als handle es sich um die Bewegung eines intelligenten Wesens.
Wir Menschen schätzen solche Systeme oft völlig falsch ein: Wenn man ein Braitenberg-Vehikel beobachtet, bekommt man leicht den Eindruck, es hätte einen Willen, bestimmte Vorlieben, vielleicht sogar einen Charakter. „Dieses Ding hat es gern hell, es ist aber ein bisschen zögerlich und bewegt sich daher immer nur in merkwürdigen Kurven auf eine Lichtquelle zu“, denken wir vielleicht. Doch der wahre Mechanismus ist viel einfacher, als dass Begriffe wie „Wollen“ oder „Zögern“ bei seiner Beschreibung Sinn ergeben würden.
Wenn man sich diesen Fehler bewusst macht, kann man sich erstaunlich oft selbst dabei ertappen, ihn zu begehen. Wir anthropomorphisieren Gegenstände und bekommen das Gefühl, dass uns der Kaffeeautomat hasst, weil er immer genau dann entkalkt werden will, wenn wir gerade im Stress sind.
Mehr hineininterpretiert als wirklich da ist
Gefährlich kann das dann beispielsweise am Aktienmarkt werden. Börsenkurse werden stark vom Zufall bestimmt – das ist eine alte, gut untersuchte Erkenntnis. Natürlich gibt es Ereignisse, die einen Börsenkurs auf logische, vorhersagbare Weise beeinflussen. Wenn ein Unternehmen bekannt geben muss, dass die Auftragslage überraschend schlecht ist, wird sein Wert sinken. Und über lange Zeiträume betrachtet werden breit gestreute Fonds normalerweise im Kurs steigen. Aber abgesehen davon gibt es auch ständig kleine Schwankungen, die auf ähnliche Weise zufällig sind, wie das Werfen einer Münze oder die unvorhersagbare Zitterbewegung eines Moleküls, das in der Luft jede Sekunde mit unzähligen anderen Molekülen zusammenstößt.
Trotzdem hat man als Mensch, wenn man die Zitterkurve eines Aktienkurses beobachtet, fast zwangsweise das Gefühl, ein nachvollziehbares Verhalten zu erkennen: „Diese Aktie hat offenbar ein bisschen Angst vor der 90-Euro-Marke. Mehrmals stand sie knapp davor, ist dann aber immer wieder umgekehrt. Wenn diese Schwelle durchbrochen ist, geht es dann vermutlich ungehindert weiter nach oben, also sollte ich jetzt kaufen!“
Es gibt jede Menge Bücher, Webseiten und Videos, durch die man angeblich lernen kann, das „Verhalten“ von Aktien zu verstehen und bestimmte „Signale“ der Börsenkurse richtig zu deuten. Manche Leute sind mit diesen Strategien auch tatsächlich als Day-Trader reich geworden. Andere hingegen haben viel Geld verloren – die schreiben dann darüber aber keine Bücher.
Klüger ist es, sich auf den Gedanken einzulassen, dass nicht alles auf der Welt eine tiefe Bedeutung hat. Nicht überall steckt ein elaborierter Plan dahinter, nicht alles wird durch Willen und komplexe Regelwerke gesteuert. Manchmal regiert der Zufall. Manchmal sind bloß ganz banale, uninteressante Regeln am Werk, wie beim Braitenberg-Vehikel. Und vielleicht ist das auch ganz gut so.