"BlackBerry-Riots": Gewalt hat andere Gründe
"Und was von London gilt, das gilt auch von Manchester, Birmingham und Leeds, das gilt von allen großen Städten. Überall barbarische Gleichgültigkeit, egoistische Härte auf der einen und namenloses Elend auf der andern Seite, überall sozialer Krieg, das Haus jedes einzelnen im Belagerungszustand, überall gegenseitige Plünderung unter dem Schutz des Gesetzes, und das alles so unverschämt, so offenherzig, dass man vor den Konsequenzen unseres gesellschaftlichen Zustandes, wie sie hier unverhüllt auftreten, erschrickt und sich über nichts wundert als darüber, dass das ganze tolle Treiben überhaupt noch zusammenhält”. Dies ist keine Beschreibung der sozialen Bedingungen in England 2011, sondern ein Zitat aus Friedrich Engels’ Bericht über die Lage der arbeitenden Klasse in England aus dem Jahr 1845.
Moralische Panik
In seinem Buch "Folk Devils and Moral Panics" (1972) zeigt Stanley Cohen, wie der öffentliche Diskurs dazu tendiert, Medien und Populärkultur für die Verursachung, Auslösung oder Stimulierung von Gewalt verantwortlich zu machen. Die Geschichte der Populärkultur sei geprägt von moralischer Panik über die Effekte von Comics, Cartoons, Theater, Kino, Rockmusik, Videos, Computerspielen, Internetpornographie – und, wie man heute hinzufügen kann, sozialen Medien.
Die Erschießung von Mark Duggan durch die Londoner Polizei am 4. August 2011 hat zu Riots in Stadtteilen Londons wie Tottenham, Wood Green, Enfield Town, Ponders End, Brixton, Walthamstow, Walthamstow Central, Chingford Mount, Hackney, Croydon, Ealing und in anderen Städten wie Liverpool, Birmingham, Nottingham, Wolverhampton, Salford oder Manchester geführt.
"BlackBerry-Mobs", Überwachung und "Internet-Besenarmee"
Es gab drei Tendenzen, wie Massenmedien über die Rolle von Technik und Medien in den Riots berichteten. Der erste Diskurs – der "Twitter- und Facebook-Mob"-Diskurs – handelte davon, dass Twitter, Facebook und Blackberries genutzt wurden, um die Proteste zu schüren, organisieren und orchestrieren. Während man noch vor einigen Monaten hören konnte, die Revolution in Ägypten sei eine „Twitter-Revolution“, wurde nunmehr implizit oder explizit nicht nur in den Boulevardmedien, sondern etwa auch von der BBC, davon gesprochen, dass es sich bei den Ausschreitungen um einen „Twitter-Mob“, einen „Facebook-Mob“ oder einen „Blackberry-Riot“ handle. Auch die Popularität von Hip Hop unter Jugendlichen wurde von einzelnen Medien als Ursache der Ausschreitungen genannt.
Der zweite Mediendiskurs – der Überwachungsdiskurs – handelte von Möglichkeiten, die Proteste durch die Überwachung von Mobiltelefonen und des Internets und das Abschalten des Blackberry-Messenger-Dienstes unter Kontrolle zu bringen. Durch die Nutzung des relativ geschlossenen Blackberrydienst seien Mobiltelefone zu Waffen der Aufständischen geworden und diese Waffen müsse man verbieten und bekämpfen. Scotland Yard veröffentlichte von Überwachungskameras aufgenommene Bilder von Personen, die an den Ausschreitungen beteiligt waren, auf Flickr und bat die Öffentlichkeit um Hilfe bei der Identifizierung.
Der dritte Mediendiskurs – der "Internet-Besenarmeediskurs" – handelte davon, dass sich eine mit Besen bewaffnete und sich über Twitter und Facebook organisierende Armee von Freiwilligen organisiere, die die Straßen Londons sauber mache und zurückerobere. Es wurde dabei unter anderem von der Entstehung einer Twitter-Besenarmee gesprochen.
Auf technische Probleme reduziert
Es ist eine alte und für Krisensituationen typische Ideologie, dass Medien und Populärkultur für Gewalt verantwortlich gemacht werden, wodurch von den realen gesellschaftlichen Ursachen von Ausschreitungen und Gewalt abgelenkt wird und einfache Lösungen – Polizei, Law & Order-Politik, Überwachung, Kontrolle – versprochen werden. Es bleibt dabei unberücksichtigt, dass Gewalt und Ausschreitungen strukturelle Ursachen haben und dass Gesellschaftsstrukturen Formen von physischer, sozialer, psychologischer und ideologischer Gewalt ausüben können. Der Fokus auf Technologie und Medien in Erklärungen der Umstände von Gewalt ist Ausdruck der Suche nach Kontrolle, Einfachheit und Vorhersagbarkeit in einer Situation hoher Komplexität und Nichtvorhersagbarkeit. Unterbewusste gesellschaftliche Schuldgefühle werden in Objekte projiziert. Die Ursachen werden nicht in komplexen gesellschaftlichen Beziehungen gesucht, sondern im Fetischismus der Dinge.
Es gibt einerseits technikoptimistische Fetischierungen („Soziale Medien werden unseren Gemeinschaften helfen, die Ausschreitungen in den Griff zu bekommen“, „Soziale Medien sollten von der Polizei überwacht werden“, „Der Blackberry-Messenger-Dienst sollte verboten werden“, „Wir brauchen mehr Kameraüberwachung, um die Krawallmacher zu finden und einzusperren“), andererseits auch technikpessimistische („Soziale Medien haben die Gewalt verursacht, ausgelöst, stimuliert, vorangetrieben, orchestriert oder organisiert“). Bei beiden Argumentationslogiken handelt es sich um Ausdruck einer technodeterministischen instrumentellen Vernunft, in der das Nachdenken über Gesellschaft durch die Annahme, dass die Technik allmächtig ist, ersetzt wird. Gesellschaftsprobleme werden auf technische Probleme reduziert.
Ungerechtigkeit und Jugendarbeitslosigkeit
Wie sieht der Kontext aus, in dem die englischen Riots stehen? Ist es eine Überraschung, dass die Ausschreitungen in Großbritannien in einer Situation tiefer ökonomischer Krise mit hoher sozioökonomischer Ungerechtigkeit und Jugendarbeitslosigkeit stattfinden? Im Jahr 2009
lag die Einkommensungerechtigkeit in Großbritannien auf einem Gini-Niveau von 32.4 (0 bedeutet absolute Egalität, 100 absolute Ungleichheit). Dieses Level wird nur von wenigen Ländern in Europa übertroffen und ist vergleichbar mit jenem von Griechenland (33.1) (Datenquelle: Eurostat). 17,3 Prozent der britischen Bevölkerung war im Jahr 2009 armutsgefährdet (Datenquelle: Eurostat). Anfang des Jahres 2011 stieg die Jugendarbeitslosigkeit auf 20.3 Prozent , der höchste Stand seit im Jahr 1992 begonnen wurde, diese statistische Kennzahl zu erheben. Großbritannien ist nicht nur eines der am ökonomisch meist entwickelten Ländern der Welt, es ist zugleich ein soziales Entwicklungsland mit vielen strukturell unterentwickelten Gebieten und Stadteilen.
Ernsthafte politische Diskussion notwendig
Der Ruf nach mehr Polizei, nach mehr Überwachung und Kontrolle der Massen und die Verurteilung von Populärkultur und sozialen Medien sind machtlos. Wenn die gesellschaftliche Situation so weit vorangeschritten ist, dass es zu Ausschreitungen der Unzufriedenen kommt, so ist es bereits zu spät, um effektiv zu handeln. Man sollte nicht soziale Medien oder Populärkultur verantwortlich machen, sondern die Gewalt gesellschaftlicher Verhältnisse in Großbritannien. Das Beispiel der politischen Entwicklung in Großbritannien und ihrer Effekte sollte der europäischen Union als Warnung davor dienen, was die Effekte neoliberaler Politik sein können und sie daran erinnern, warum es so wichtig wäre, einen universellen europaweiten Wohlfahrtsstaat mit effektiver und auf höchstem Niveau harmonisierter europäischer Sozial-, Gesundheits- und Bildungspolitik aufzubauen. Überwachung, Law & Order Politik und die Verurteilung sozialer Medien können Gesellschaftsprobleme nicht lösen, sie sind ein konservativer und rein reaktiver Reflex, der die Komplexität von Gesellschaft und Medien missachtet.
Eine ernsthafte politische Diskussion über Klassenverhältnisse, Ungerechtigkeit und Rassismus ist notwendig. Die Riots in Großbritannien sind kein "Twitter-Mob", kein "Blackberry-Mob" und auch die "Internet-Besenarmee" wird die Situation nicht retten, denn die Ausschreitungen sind die Effekte struktureller Gewalt im Neoliberalismus. Kapitalismus, Krise und Klasse sind heute die wichtigsten Kontextvariablen von Aufschrei, Ausschreitungen und sozialen Medien.
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Christian Fuchs ist Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der schwedischen Universität Uppsala. Er ist Autor der Bücher „Internet and Society: Social Theory in the Information Age“ (Routledge 2008), „Foundations of Critical Media and Information Studies“ (Routledge 2011) und Mitherausgeber des Sammelbandes „Internet and Surveillance. The Challenges of Web 2.0 and Social Media“ (Routledge 2011).