Meinung

Die Augen der Welt

Anfangs, als Google sein „Project Glass" zur Marktreife gebracht hatte, waren die Brillen mit der einblendbaren Bildschirmfunktion schlichtweg praktisch. Man konnte sich zusätzlich nützliche kleine Realitätsebenen vor Augen führen. Richtungshinweise sehen, ohne erst Riesen-Origamis aus Papierstadtplänen ausfalten zu müssen. Die Außentemperatur gleich beim Blick aus dem Fenster erfahren. Derlei.

Bedauernswerte Minderheit der Nichtbrillenträger
So wie man sich früher über immer mehr vermeintlich verrückte Menschen gewundert hatte, die auf der Straße laut Selbstgespräche führten, nur um sich bald an die in Wahrheit Mobiltelefonierenden zu gewöhnen, die in eine unsichtbar kleine Freisprecheinrichtung redeten, hat man sich nun längst an die seltsam gestikulierenden Leute gewöhnt, die in einer Realität agieren, welche nur Menschen sehen können, die auch solche Glasses tragen. Kaum jemand geht noch ohne.

Sie sind so sehr Normalität geworden, dass die verbliebene Minderheit sich mit sperrigen Negativbezeichnungen abgrenzen muß („Tut mir leid, Nichtbrillenträger") – ein genialer Schachzug des Glasses-Produzenten und -Betreibers Google. Der Tabakindustrie war es im 20. Jahrhundert erstmals gelungen, mit dem „Raucher" eine scheinbar eigenständige Identität zu schaffen und jeden, der einfach Luftatmer war, dazu zu zwingen, sich als „Nicht-Raucher" in eine unangenehm negative Position zu begeben. Nun also „Brillenträger".

Mietgucker und Reality-Ratingagenturen
Da man den Blick durch die Glasses per WLAN auch mit anderen teilen kann, bildete sich rasch ein Biotop an Mietblick-Modellen, beginnend bei passiver Tourbegleitung. Dazu sucht man sich auf einer Online-Karte eine der zahllosen Personen aus, die ihre Glasses zum Mietgucken freigeschaltet haben, bucht den gewünschten Zeitraum und kann sich dann durch die entsprechende Weltgegend bewegen und dabei durch fremde Augen sehen. Verschiedene Bewertungsverfahren und Reality-Ratingagenturen sollen sicherstellen, dass man keine Filmkonserve, sondern Realtime-Realität zu sehen bekommt.

Dieses simple Mitsehen läßt sich in den verschiedensten Formen upgraden. Bei Diensten wie „HuckeBlick" kann man in den Premium-Versionen, in der Art eines privaten Tourguides, auch Fragen oder Anweisungen an den Glasses-Träger auf der anderen Seite richten. Anspruchsvolle oder mißtrauische Augenreisende mieten gern zwei Blick-Sherpas am selben Ort, durch die gegenseitig kontrolliert werden kann, ob das Angebot echt ist – und auch, um eine Art Erlebnis-Stereophonie genießen zu können.

Ego Walker und Sesselreisende
Diese Art der Welterkundung, das sogenannte Sesselreisen von sicheren, bequemen Orten aus, erfreut sich größter Beliebtheit. Es hat das Reisen als auch die herkömmliche Mediennutzung grundlegend verändert – Fern-Sehen hat inzwischen eine völlig andere Bedeutung als noch vor wenigen Jahren. Heute sieht sich kaum noch jemand Actionfilme an, stattdessen holt man sich Tips, wann und wo die nächste Razzia in einer mexikanischen Drogenhochburg stattfindet und mietet sich dann in die Glasses eines Einsatzbeamten, eines Gangmitglieds oder von beiden ein.

Die Spieleindustrie bietet seit längerem als Weiterentwicklung der Ego Shooter sogenannte Ego Walker, bei denen man sich durch seine reale Umgbung bewegt, die aber massiv durch in Echtzeit berechnete eingeblendete Zusatzelemente - Architekturen, Menschen und Maschinen - überlagert ist. Begonnen hatte die Entwicklung mit den ersten Real-Werbeblockern, die Glasses-Träger als App laufen lassen konnten und die Reklameschilder auf der Straße aus- oder mit Bildern eigener Wahl überblendeten.

Navigations-Trojaner und virtuelle Marienerscheinungen
Natürlich versuchen auch Finsterlinge von der Technologie zu profitieren. Ahnungslose werden mit Navigations-Trojanern in Seitengassen gelotst und ausgeraubt. Gerüchtweise sollen auch militärische Goggles bereits mit Software-Backdoors kompromittiert sein, durch die im Ernstfall nichtvorhandene Angreifer oder Landschaftsteile eingeblendet werden können. Bei einer Freiluftmesse in Südkorea, an der mehr als 150.000 Menschen teilnahmen, wurde neulich eine Massenhysterie ausgelöst, nachdem in die Glasses der Teilnehmer eine gefälschte Marienerscheinung eingespiegelt worden war.

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Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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