"Ein Gehirn-Scan braucht vier Petabyte an Speicherplatz"
Unser Verständnis der Funktionsweise des Gehirns hat sich in den vergangenen Jahrzehnten drastisch geändert. Seit den ersten Einteilungen in wenige funktionale Areale, die auf mikroskopischen Untersuchungen der Gehirne Verstorbener beruhten, hat sich gezeigt, dass Geirne weitaus komplexer sind, als bislang angenommen, "Heute können wir die Verteilung der Nervenzellen in der Hirnrinde messen und einzelne Areale nach der Zelldichte einteilen. Wir haben dabei entdeckt, dass sich die Größe und Lage der Areale auch zwischen Individuen deutlich unterscheiden kann", erklärte Katrin Amunts, Direktorin des Instituts für Neurowissenschaft und Medizin am Forschungszentrum Jülich im Rahmen einer Plenarveranstaltung beim Forum Alpbach.
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Dezentral organisiert
Ein Zentrum, in dem die Persönlichkeit oder das Ich sitzt, gibt es laut derzeitigem Kenntnisstand nicht. "Es gibt keine Kontrollinstanz. Die Funktionen sind auf das ganze Hirn verteilt. Rund 120 komplex verschaltete Hirnareale arbeiten ständig parallel", so Singer. Zwischen manchen Hirnregionen sind 60 Prozent der theoretisch möglichen Verbindungen realisiert, was eine unglaubliche Zahl an Querverknüpfungen bedeutet. Trotzdem lassen sich bei komplexen Prozessen wie der Wahrnehmung keine eindeutigen Zentren finden. "Sieht eine Person einen Hund, gibt es kein Zentrum im Hirn, in dem dieser eindeutig identifiziert wird. Stattdessen entsteht aus den verschiedenen, räumlich getrennnten Arealen, die einzelne Eindrücke verarbeiten, ein Muster neuronaler Aktivität, das als Hund interpretiert werden kann", erklärte der Experte.
Daraus ergibt sich das Problem, dass bei mehreren parallel zu verarbeitenden Eindrücken die Trennung problematisch wird. Welcher Prozesse zu einer bestimmten Wahrnehmung gehören, ist schwierig zu filtern. "Das ist das sogenannte Bindungsproblem: Wie trenne ich mehrere Wahrnehmungen in den Schaltzuständen des Gehirns", sagte Singer. Die Lösung scheint in der zeitlichen Darstellung zu liegen. Areale, die zusammengehörende Informationen bearbeiten, synchronisieren ihre elektrischen Impulse. "Alle Aktivitäten im Hirn haben eine zeitliche Struktur, die Netzwerke oszilieren mit ein bis 120 Hertz und können über Entfernungen hinweg synchronisiert werden", so Singer. Kognitive Prozesse funktionieren also ähnlich wie Musik, die nach Tönen getrennt werden kann. Diese Einsicht stelle einen Paradigmenwechsel in der Neurobiologie dar, sagte Singer.
Bis vor nicht allzu langer Zeit sind die Wissenschaftler davon ausgegangen dass das Hirn eine reine Reiz-Reaktionsmaschine sei. "Heute sehen wir es als dezentrales, selbstorganisiertes System, das sich in der Zeit entfaltet. Das Hirn ist zeitlich sehr präzise organisiert", so der Hirnforscher. Persönlichkeit, Denken und andere kognitive Prozesse wären demnach zu jedem Zeitpunkt nur in den flüchtigen Schaltzuständen zwischen den Neuronen realisiert. Es gibt erste Hinweise darauf, dass es sich bei schizophrenen Erkrankungen um eine Störung der zeitlichen Synchronisation zwischen Hirnarealen handeln könnte. "Wenn wir unser Verständnis vertiefen können, besteht vielleicht die Hoffnung auf andere Diagnostik und langfristig eventuell sogar Therapie", sagte Singer.