© Jakob Steinschaden

Interview

Etsy: „Handarbeit hat nichts mit Oma zu tun“

Die Online-Plattform Etsy ermöglicht Privatpersonen und Kleinstunternehmen ihre selbstproduzierten Waren direkt an den Kunden zu bringen. 2010 wurden Artikel im Wert von 600 Millionen Dollar über die Seite verkauft. Seit Anfang vergangenen Jahres versucht die US-Plattform auch in unseren Breiten stärker Fuß zu fassen. Im Zuge der Konferenz SIME Vienna sprach die futurezone mit Europa-Chef Matthew Stinchcomb über die Spielregeln auf der Plattform, den schwierigen europäischen Markt und was es mit der „Dildo-Affäre“ auf sich hat.

futurezone: Wie würden Sie selbst Etsy in einem Satz beschreiben?
Matthew Stinchcomb: Etsy ist ein Community-basierter Marktplatz, wo man handgefertigte Waren verkaufen und kaufen kann - und zwar direkt von den Leuten, die sie gemacht haben.

Was kann man auf Etsy nicht verkaufen, gibt es strenge Regeln dafür, was erlaubt ist und was nicht?
Viele Dinge können nicht auf der Plattform verkauft werden. Zunächst einmal natürlich nichts Illegales wie Drogen oder Feuerwaffen – auch wenn sie selbst gemacht sind. Wichtiger ist aber: Man kann nichts wiederverkaufen, was man irgendwo erstanden und nicht selbst gemacht hat. Dabei gibt es eine Ausnahme: Kunstobjekte und Vintage-Artikel, die mindestens 20 Jahre alt sind. Kontrolliert wird das ganze über unterschiedliche Wege. Es gibt Softwareprogramme dafür, hauptsächlich kommt hier aber die Community selbst zum Tragen, die Verstöße melden kann. Alles in allem halten sich diese jedoch sehr in Grenzen. Ein zentraler Punkt ist die Urheberschaft: Jeder, der in die Produktion einer Ware eingebunden ist, soll bei Etsy klar identifizierbar sein.

Welche Kategorien sind die stärksten auf der Plattform, welche Waren werden am häufigsten über Etsy verkauft?
Unser größter Bereich ist Schmuck - das ganze Jahr über - gefolgt von Kunst. Natürlich gibt es auch saisonale Schwankungen, am stärksten ist das Geschäft generell zu diversen Feiertagen wie zum Beispiel Weihnachten oder Neujahr.

Welche Märkte sind die wichtigsten für Ihre Plattform?
Die USA sind natürlich nach wir vor unser größter Markt. Wir sind aber auch recht stark in Kanada, Australien und Großbritannien – generell in englischsprachigen Ländern. Jetzt wollen wir auch stärker auf andere Länder fokussieren: Frankreich, Deutschland, die Niederlande, Italien und Spanien. In Europa ist es allerdings insgesamt schwieriger, sich mit einer Plattform wie Etsy zu etablieren. In den USA steht man neuen Projekten grundsätzlich offener gegenüber. Hinzu kommt, dass Dinge wie „Handarbeit“ in Ländern wie Deutschland noch immer den Ruf haben, etwas Altmodisches zu sein, etwas das nur die Großmutter macht. Wir beobachten aber, dass sich immer mehr Leute für Handgefertigtes begeistern und begreifen, dass das nichts mit Oma zu tun haben muss.

Ist das Europageschäft überhaupt profitabel?
Ich würde es so sagen: Wir verlieren derzeit kein Geld hier.

Wie viele Leute sind bei Etsy in Europa beschäftigt, gibt es Pläne, das Geschäft in Europa weiter auszubauen?
In Berlin arbeiten sechs Leute, drei in Frankreich, zwei in Großbritannien und einer in Amsterdam. Als nächstes würden wir gerne ein Büro in Irland eröffnen, nicht zuletzt auch aufgrund der steuerlichen Begünstigung dort.

Wie sind Sie selbst zu Etsy gekommen?
Einer der Gründer der Plattform, Robert Kalin, war mein Mitbewohner, wir haben gemeinsam in einem Apartment in Brooklyn gewohnt. Ursprünglich habe ich Kunstgeschichte studiert, war dann Vollzeit-Musiker in einer Band (French Kicks Anm.) und hab nebenbei Siebdruck gelernt. Ich habe zu der Zeit auch Band-T-Shirts gemacht und verkauft. Letztlich ist Rob dann auf mich zugekommen, ob ich bei Etsy einsteigen will. Ich war nicht an der Idee beteiligt, bin aber relativ früh eingestiegen und habe dann das Marketing und den Community-Bereich übernommen. Im Januar 2010 bin ich dann nach Deutschland gezogen, im Zuge dessen wurde auch das Etsy-Büro in Berlin eröffnet. Meine Frau ist Deutsche und wir hatten ohnehin die Absicht, nach Europa zu übersiedeln. Pläne, mit Etsy auch stärker in andere Märkte zu expandieren, gab es schon davor.

Wie sieht es mit Konkurrenz aus, wird eBay als direkter Wettbewerber betrachtet?
Das ist wirklich schwer zu sagen, eBay ist sehr viel größer als wir. Aber man kann es so sehen: Im Bereich von handgemachten Waren setzen wir ihnen ordentlich zu. Unter dem Strich ist eBay also wohl ein Konkurrent von uns. Gleichzeitig sind wir aber sehr abhängig von PayPal, also in dem Bereich wiederum eine Art Partner. Darüber müssen wir künftig, wenn wir größer werden, wohl noch genauer nachdenken. Abgesehen davon gibt es mittlerweile in sehr vielen Ländern sogenannte Copycats von Etsy, also Unternehmen die es uns nachgemacht haben. Bekanntestes Beispiel ist DaWanda in Deutschland. Allerdings versuchen wir diese Konkurrenz positiv zu sehen, etwa, dass ein Bewusstsein für unsere Produkte geschaffen wird.

Kürzlich herrschte Aufregung aufgrund von Änderungen bei der Profilsuche auf Etsy. Plötzlich konnte jeder sehen, was andere Nutzer gekauft haben - mit teils heiklen Resultaten. Es gab etwa das Beispiel einer Frau, die sich irgendwann einen Dildo gekauft hatte und plötzlich damit in der Googlesuche auftauchte. Was ist da genau passiert?
Ja, das haben wir total verbockt. In erster Linie ging es da aber nicht um die Änderungen, sondern wie wir sie kommuniziert haben. Grundsätzlich konnte man immer schon öffentlich sehen, wer etwas gekauft hat, wenn dazu Feedback abgegeben wurde. Was wir dann eingeführt haben, war die Möglichkeit, statt Nicknames reale Namen anzugeben – auf freiwilliger Basis. Die Feedback-Option blieb unverändert. Wer dann alle Puzzleteile zusammengezählt hat, konnte natürlich genau nachvollziehen, was eine bestimmte Person gekauft hat. Daran hätten wir denken und die Nutzer deutlicher darauf hinweisen müssen. Letztlich wurde die Möglichkeit geschaffen, alle Käufe auf „privat“ zu stellen, damit niemand etwas sehen kann. Was den genannten Fall betrifft, war das wohl nur eine hypothetisches Beispiel in den Medien. Wir nennen die ganze Sache jetzt „Dildogate“ (lacht).

Etsy hat finanzkräftige Investoren hinter sich, nehmen diese starken Einfluss auf das Tagesgeschäft?
Sicherlich haben sie Einfluss auf das Geschäft, aber ich würde sagen, sehr positiven. Wir haben sehr viel Glück mit cleveren, engagierten Investoren. Jim Breyer beispielsweise, er ist auch einer der Hauptinvestoren bei Facebook, Fred Wilson, Vorstandsmitglied bei Twitter und Foursquare, oder Caterina Fake von Flickr.

Was dürfen wir von Etsy in Zukunft erwarten, welche Ziele werden anvisiert?
Wir planen jede Menge. Einer der wichtigsten Punkte ist der Start in diversen neuen Sprachen, dabei wollen wir uns zuerst auf den deutschen Markt konzentrieren und Deutsch auf der Plattform unterstützen. Auch bei unseren Bezahlmöglichkeiten werden wir nachbessern, so sollen auch Banküberweisungen künftig möglich sein und wir wollen verschiedene Währungen anbieten. Von einem größeren Blickwinkel aus betrachtet, wollen wir mit Etsy in erster Linie unseren Nutzern dabei helfen, ein erfolgreiches Geschäft mit ihren Waren aufzubauen. Handgefertigte Dinge sollen nicht nur als reiner Produktionsablauf, sondern als Lebenseinstellung angesehen werden, das ist unser Ziel. Wir haben die Vision, dass wirklich alles, das selbstgemacht ist, auf Etsy verkauft wird. Das kann Musik genauso sein wie Essen.

Verkaufen Sie auch selbst Produkte über Etsy?
Ja. Das meiste davon wird über den Etsy-Shop auf der Plattform verkauft. Da ich mich mit Siebdruck auskenne, mache ich viele Merchandise-Artikel für Etsy, außerdem produziere ich immer wieder recht aufwendig gestaltete Pressemappen. Hin und wieder verkaufe ich auch Shirts, die ich gedruckt habe. Mein Zeug findet über Etsy auf jeden Fall seinen Weg hinaus in die Welt.

Zur Person:
Matthew Stinchcomb ist Europa-Chef bei Etsy.com. Derzeit lebt der 35-jährige US-Amerikaner mit seiner Frau und seinem Sohn in Berlin. Bevor der studierte Kunsthistoriker bei der Plattform einstieg, war er Sänger bei der Indierock-Band French Kicks.

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Claudia Zettel

ClaudiaZettel

futurezone-Chefredakteurin, Feministin, Musik-Liebhaberin und Katzen-Verehrerin. Im Zweifel für den Zweifel.

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