© Paul May, Flickr, http://twitter.com/paulmmay

Interview

"Internet nur ein Teil eines größeren Umbruchs"

futurezone: Sie schreiben, dass wir in einer existenziellen Krise stecken, aber zu beschäftigt sind, um es zu bemerken. Wann fiel Ihnen zum ersten Mal auf, dass etwas Wichtiges geschieht?
Ende der 80er-Jahre. Als die digitale Technologie aufkam, geschah dies mit zahlreichen kulturellen Entwicklungen. Die Rave-Kultur entstand, Rollenspiele verbreiteten sich; die Leute begannen sich für Chaostheorie und neue Arten der Physik zu interessieren, wie zum Beispiel für die Konzepte (des Quantenphysikers, Anm.) von David Bohm zur impliziten und expliziten Ordnung. Vieles geschah in etwa zur selben Zeit, und da begann ich zu vermuten, dass  Neues im Entstehen war. Die meisten Leute führen es auf das Internet zurück. Ich glaube, das Internet war nur ein Teil eines größeren kulturellen Umbruchs.

Sie argumentieren den Niedergang klassischer Geschichten mit linearen Handlungsbögen. Fernsehzuseher etwa hätten kaum noch Geduld mit Charakteren, die sich dumm aufführen. Die meisten würden nicht aus Langeweile umschalten, sondern weil sie sauer sind. Glauben Sie nicht, dass die Leute einfach nur anspruchsvoller werden, aber trotzdem immer bereit sind für eine gute Geschichte?
Die Menschen sind bereit für gute Geschichten, auf jeden Fall. Nur können sich Werber und Geschichtenerzähler nicht mehr auf die Kooperation des Publikums verlassen. Heute müssen sie sich das Vertrauen des Publikums erst einmal verdienen: ob das nun ein Politiker ist, der über die Zukunft seiner Partei spricht oder ein Drehbuchschreiber einer Sitcom, der die Zuseher unterhalten will. Die Leute haben Auswahlmöglichkeiten, was die Autorität des Erzählers verringert. Der kann nicht mehr davon ausgehen, dass ihm das Publikum an den Lippen hängt.

Vieles konsumieren wir nur noch in Schnipseln: Nachrichten, Videos. Gleichzeitig gibt es ein wachsendes Interesse an tiefergehender Betrachtung, etwa an Journalismus, der Themen ausführlich behandelt.
Ja, es kommt langsam wieder. In den letzten zehn Jahren ersetzte eine Kultur der Ablenkung die Kultur der Kontemplation. Wir konsumieren immer kleinere Informationsmengen: 140-Zeichen-Tweets anstelle eines Blog-Postings, halbminütige YouTube-Clips über die Höhepunkte eines Films. Die Leute erkennen, dass sie vieles sehr schnell machen, aber nichts davon genau verstehen. Daher rührt das Bedürfnis nach Zeit, um sich mit etwas tiefer zu beschäftigen – vor allem, weil wir erkennen, dass die Vorstellung keine Zeit zu haben, einfach falsch ist. Natürlich haben wir Zeit! Die Leute haben nur Angst vor Texten mit 800 oder 1000 Wörtern, weil sie während des Lesens etwas verpassen könnten. Mittlerweile wissen wir, dass wir einen Tweet auch später lesen können und überhaupt nichts verpassen. TV-Sendungen, die derzeit populär sind, wie Game of Thrones oder Homeland, sind ja auch auf eine neue Art ausführlich. Es gibt noch nicht einmal in jeder Sendung einen Höhepunkt. Man bewegt sich durch eine lange, vielschichtige Geschichte, manchmal über Jahre hinweg.

Twitter ist ein wichtiger Teil der Schnipsel-Kultur. Welche Rolle spielt Twitter in der Medienlandschaft, etwa am Beispiel der Bombenanschläge von Boston?
Ich habe die Entwicklungen nicht so sehr auf Twitter verfolgt. Ich verwende gemeinsam mit Freunden Google Groups und viele von ihnen unterrichten entweder am MIT (in Boston, Anm.) oder studieren dort. Das wurde zu meinem Twitter-Pendant. Twitter hat die klassischen Medien in ein Twitter-ähnliches Stadium gedrängt: Jeder wollte der Erste mit kleinen Infoschnipseln sein, weil es keine große Story gab. Doch wenn klassische Medien Hypothesen veröffentlichen, die gerade einmal einen Satz lang sind, dann ist das heikel. Es gibt einen Verdächtigen; hier ist sein Foto; das ist doch nicht sein Foto; es könnte eine Bombe geben; es gibt Gerüchte, dass jemand angeschossen wurde; Das ist wie ein riesiges Schiff, das auf jede kleinste Kursänderung reagiert. Fernsehnachrichten sind viel besser darin, eine Story zu erzählen, nachdem sie passiert ist. Wenn im Fernsehen eine Person dasteht und sagt „Jetzt wissen wir, was passiert ist" – wenn sie es eben noch nicht wissen – dann hat das mehr Gewicht. Twitter auf der anderen Seite hat eine Art eingebauten Zweifel. Man kommt gewissermaßen gemeinschaftlich zur Einsicht, was gerade passiert. Twitter hat mehr selbstkorrigierende Mechanismen, weil es einfach so viele Leute benutzen.

Sie schreiben, dass wir ständig unsere E-Mails checken, weil wir süchtig danach sind, etwas Tolles zu entdecken. Wie gehen Sie denn mit Ihrem Posteingang um?
Ich verwende E-Mail asynchron. Das heißt, ich betrachte es nicht als etwas, das in Echtzeit passiert. Wenn mir jemand eine E-Mail schickt, erstellt er ein Dokument und legt es in meinem Verzeichnis ab, auf Google oder sonst irgendwo. Nur weil das Dokument dort ist, bedeutet das nicht, dass ich es mir gleich ansehen muss. Ich verwende E-Mail nicht, um am Laufenden zu bleiben, sondern um auf die Bedürfnisse anderer Leute zu reagieren. Irgendwann haben wir damit begonnen, E-Mails als kleine Portionen positiver Bestärkungen zu verstehen, die über den Tag verteilt eintrudeln. Die meisten von uns können das Medium nicht ausstehen und dennoch durchsuchen wir 20, 50 oder 70 E-Mails nach einer Nachricht, in der etwas Positives stecken könnte. So einfach funktioniert klassische Konditionierung. Im Grunde zerbrechen wir uns den Kopf über ein Muster: eines, das vorhersagt, wann die nächste erfreuliche E-Mail eintreffen wird.

Sie haben Facebook den Rücken gekehrt. In einem Text auf CNN.com erklären sie, dass Facebook unsere Interaktionen ausnutzt wie Tupperware-Parties. Wie waren die Reaktionen?
Am meisten haben mir Kommentare von Leuten bedeutet, die gar nicht wussten, dass das überhaupt möglich ist. Ich weiß, es klingt überraschend, aber es gibt Leute, die nicht wissen, dass Facebook nicht das Internet ist. Sie betrachten E-Mail und das Web als Funktionen von Facebook und wissen nicht, dass es daneben noch ein ganzes, riesiges Internet gibt. Dann gab es Leute, die fanden, dass ich ihnen mit meinem Schritt gewissermaßen die Erlaubnis gab, Facebook zu verlassen. Sie haben das davor nicht wirklich als Option betrachtet. Nicht, dass man tot umfallen würde, aber die Leute glauben, dass sie nicht an der Kultur teilnehmen würden, oder dass Facebook notwendig für Job und Familie sei. Wiederum andere haben schlicht nicht verstanden, wie sie ausgenutzt werden: Dass ihre Fotos für etwas verwendet werden, von dem sie noch nie gehört haben.

Sie schreiben, dass jeden Tag weniger Amerikaner an Evolution glauben oder daran, dass Umweltschutz notwendig ist. Gibt es so etwas wie zu viel Wahlfreiheit?
Vielleicht auf gewisse Weise. Aber die Wahlmöglichkeiten sind nicht das eigentliche Problem, sondern dass die Leute unentwegt in einen Zustand der Entscheidung gedrängt werden. Wenn Sie telefonieren und ein zweiter Anruf kommt herein, dann kommt es gar nicht so sehr darauf an, wer es ist. Allein, dass Sie die Entscheidung treffen müssen, bringt Sie aus dem Gespräch heraus. Wir sagen, wir haben so viel mehr Freiheit. In Wahrheit haben wir nicht die Wahl, nicht ständig Entscheidungen treffen zu müssen. Sie haben vorhin gesagt, dass sich die Leute stärker für längere journalistische Texte interessieren. Einer der Gründe dafür ist, dass man nicht ständig irgendetwas auswählen möchte.

Weil persönliche Kommunikation abnimmt, brauchen wir Retweets und Likes, damit wir uns angenommen fühlen. Allerdings funktioniert das mit dem Ersatz nicht so richtig. Wie kommen wir da wieder heraus?
Der erste Schritt ist, das Problem zu erkennen und herauszufinden, wie man auf bestimmte Dinge reagiert. Danach sollte man einfach mit Erlebnissen in der echten Welt beginnen: vier oder fünf Minuten pro Tag bewusst mit Leuten reden, ihnen dabei in die Augen schauen, sich darauf konzentrieren, was sie sagen und wie sie sich fühlen – ohne dabei aufs Handy zu schauen.

Das klingt besorgniserregend.
Ich weiß, aber es verlangt vielen Leuten einiges ab. Es geht nicht darum, der Anziehungskraft simulierter Erlebnisse zu widerstehen, sondern den Reiz anderer Leute zu erkennen. Weiters könnte man neben einem Fenster arbeiten, damit man weiß, welche Tageszeit gerade ist. Das hilft dabei, die innere Uhr zu kalibrieren. Ein konstruktives Gespräch mit dem Chef kann klären, wann erwartet wird, dass man erreichbar ist und wann nicht.

Sie schließen Ihr Buch mit einer Idee, die Sie Apocalypto nennen: die Sehnsucht mancher Menschen nach einem Ende, wenn nötig mittels eines apokalyptischen Ereignisses. Sie erwähnen die beliebte TV-Sendung The Walking Dead. Glauben Sie, dass sich die Leute das mit einem Apocalypto-Hintergedanken anschauen?
Sicher. Man plant gemeinsam mit den Charakteren seine Strategie. Was die Sendung so fesselnd macht, sind andere Dinge als bei Game of Thrones oder Battlestar Galactica, obwohl diese das gleiche Zielpublikum haben. Doch weder bei Game of Thrones noch bei Battlestar versetzt man sich in die Lage der Charaktere. The Walking Dead ist einfach und archaisch, und deswegen versetzt man sich hinein. Hinzu kommt, dass die Kultur im Gegensatz zu unserer höchst komplizierten, technologisch durchsetzten ansprechend erscheint. Man braucht sich keine Gedanken darüber zu machen, was gerade auf Twitter passiert. Anstatt dessen macht man sich Sorgen, ob man auf die andere Seite des Zauns gelangt, bevor einen die Zombies erwischen. Die Dinge kehren zu einem ursprünglicheren Level zurück, es werden die Instinkte angesprochen, und diese Art von Problemen können wir nachvollziehen: es ist wie Tic Tac Toe anstatt eines riesigen, verworrenen Spiels.

Der amerikanische Medientheoretiker Douglas Rushkoff versucht sich in seinem Buch "Present Shock" an einem Zustandsbericht der technologiegetriebenen Gesellschaft. Er analysiert Aspekte eines ständig abgelenkten, geschäftigen Lebens, in dem die Menschen Dingen nachjagen, die unmittelbar wichtig erscheinen und den Blick aufs Wesentliche verlieren.

Rushkoff kommt zum Schluss, dass wir in der Gegenwart feststecken, im "present shock": Dieser ist geprägt von kurzen Aufmerksamkeitsspannen, einer Fixierung auf Status-Updates und Konsum, bei dem die Ware weniger wichtig ist als das Einkaufserlebnis im Web. Er beschreibt den Zustand als Leben im RAM, ohne dabei allzu oft auf die Festplatte zurückzugreifen: "It`s all processing, with no stuff to hang on to."

Present Shock: When Everything Happens Now ISBN-10: 1591844762

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