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Peter Glaser: Zukunftsreich

Die wahren Killer-Applications

Gewöhnlich handelt es sich, wenn von einer Killer Application die Rede ist, nur um eine mordsmäßige Metapher. Medien bedienen sich gern martialischer Bilder, die digitalen Medien machen da keine Ausnahme. Etwas greifbarer wird das Schreckensganze, wenn man sich an altehrwürdige Actionfilme, allen voran die Fernsehserie „Kobra, übernehmen Sie" aus den frühen Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts erinnert. Zum Inventar jeder Episode gehörte ein damals hochmodernes, kleines Spulentonband, das Auskunft über die aktuelle Mission gab und sich stets mit dem Worten „Dieses Tonband zerstört sich in 5 Sekunden von selbst" verabschiedete, um anschließend in Rauch aufzugehen.

Millionenteurer Fehler im Code
Die Idee, Geräte selbstmordfähig zu machen, entstammt dem Kriegshandwerk (Waffen lieber zerstören, als sie dem Feind in die Hände fallen zu lassen) und zivilen Spin-offs wie der Raketentechnik. 1962 verlor die NASA ihre erste interplanetarische Raumsonde Mariner 1, weil irgendwo im Programmcode der Raketensteuerung ein Querstrich fehlte. Knapp fünf Minuten nach dem Start wurde die Selbstzerstörung des millionenteuren Flugkörpers initialisiert.

Manchmal ist es nicht fehlerhafter Code, der die finale Sequenz auslöst - oder auslösen soll -, sondern Code, der jemandem beispielsweise nicht paßt. So veröffentlichte die „Data Welt", das Hausblatt der Düsseldorfer Software- und Handbuchschmiede Data Becker, einst in den Achtzigerjahren ein Interview mit einem garstigen jungen Mann, der das Konzept eines Kopierschutzes für Homecomputer vorstellte, durch den bei Kopierversuchen die Hardware zerstört werden sollte. „Raubkopien" mit Sachbeschädigung zu kontern, ist aber aus verschiedenen Gründen kein guter Ansatz.

 

DVD mit Selbstzerstörung
Zwar hat man von dem Hardware-Ruinierer nie wieder etwas gehört, aber das gezielte Kaputtmachen von Digitaltechnik hat sich als scheinbar unausrottbarer Wunsch in die Optionsfülle von Medien und Apparaturen eingenistet. Als Anfang des neuen Jahrtausends eine Reihe von Musiklabels versuchte, die Hörer von CDs auf Musik-DVDs umzulotsen, wurde zu diesem Zweck unter anderem eine Promo-DVD produziert, die sich nach ein paar Stunden selbst zerstörte. Wenn man die Scheibe aus der Verpackung nahm und dem Tageslicht aussetzte, begann die Trägerschicht zu zerfallen.

Es gibt auch Nachrichten, die sich selbst nirwanisieren (oder die es zumindest versuchen). Als in dem 1998 begonnenen Antitrust-Verfahren gegen Microsoft Firmenchef Bill Gates durch interne E-Mails vor Gericht in arge Verlegenheit gebracht wurde, motivierte das unter anderem ein paar britische Softwarespezialisten, eine sich selbst entsorgendes E-Mail „mit 2,048-bit-Verschlüsselung" zu entwickeln. Der Sicherheitsexperte Bruce Schneier hielt den Versuch schon damals eher für ein Werbegimmick, da nicht die Verschlüsselung, sondern vielmehr die Wahl des Paßworts über die Sicherheit entscheidet. Und auch wenn die Möglichkeiten für Copy & Paste oder Screenshots deaktiviert sind, kann man das zum Beispiel ganz einfach umgehen, indem man Fotos vom Bildschirm anfertigt.

Die Lust auf Löschung
Selbstverständlich hat die Idee auch aktuelle Wandlungsformen in Gestalt von Internet-Diensten angenommen. „Burnnote" beispielsweise „bringt Nachrichten mit Selbstzerstörung". Dabei können über URL-Verkürzer verschickte Nachrichten vom Empfänger nur jeweils einmal aufgerufen werden – beim Öffnen startet automatisch der Countdown, der zur virtuellen Verbrennung der Botschaft führt („eine nette Spielerei für Privatleute"). „Privnote" ist etwas ganz Ähnliches, maßgeschneidert für das iPad.

Die Lust auf solide Löschung wird verständlicher, wenn man sich die Gegenseite des Nachrichtenschwunds ansieht – Dienste wie Politwoops etwa, den die transparenzgesonnenen Menschen der Sunlight Foundation jüngst eingerichtet haben, um gelöschte Tweets von amerikanischen Politikern wieder sichtbar zu machen (einschließlich des Löschdatums und der Zeit, die zwischen dem Absetzten des Tweets und der Anihilation vergangen ist).

Elektrischer Stuhl für Daten
Auch die bedarfsweise Hardware-Selbstvernichtung ist weiterentwickelt worden. Dafür besonders geeignet waren bisher aus naheliegenden Gründen vor allem externe Speichermedien. Nun hat die Firma Runcore eine Speicherlösung vorgestellt, die im Rechner eingebaut werden und im Ernstfall auf Knopfdruck durchbrennen kann. „So soll", heißt es lakonisch, „keinerlei Datenwiederherstellung möglich sein." Die Knopf-Auswahl ist kinoreif: Es gibt einen grünen Knopf, mit dem die Daten sich auf konventioneller Art löschen lassen, und einen roten, der einen heftigen Stromschlag in das Solid-State-Drive (SSD) schickt – eine Art elektrischer Stuhl für Daten also.

Das Ganze erinnert auch deshalb an James-Bond-Filme, weil dort am Ende stets die von Bühnenbildnern in monatelanger Arbeit entworfenen und mühevoll aufgebaute Weltherrscherzentrale effektvoll in Schutt und Asche gelegt wird. Es hat etwas von kindlicher Zerstörungslust. Mit Sicherheit hat es wenig zu tun.

 

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Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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