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Peter Glaser: Zukunftsreich

Hinternerkennung

Forscher am Advanced Institute of Industrial Technology (AIIT) in Tokio haben eine hochmoderne Rube-Goldberg-Maschine entwickelt, die man aber nicht sehen kann. Man kann immerhin auf ihr sitzen. Das heißt jedoch: der ganze Spaß ist weg.

Die nach dem 1970 verstorbenen Cartoonisten Reuben L. Goldberg benannte Rube Goldberg-Maschine steht inbildhaft für Probleme, die der Mensch mit seinen Maschinen hat. Es sind Maschinen, mit deren Hilfe sich auf außerordentlich komplizierte Weise ein ganz einfaches Ergebnis erzielen läßt. Ob bei Indiana-Jones durch Schatzsucher vertrackte Abwehrmechanismen ausgelöst werden oder erfinderische Bastler hochverknäuelte Systeme in Betrieb setzen, aus denen schließlich Kaffee tröpfelt oder kleine Jungs unglaubliche Klapparatismen starten, in denen Kugeln rollen, Wippen kippen, Kreisel schwirren und am Ende ein Streichholz angerieben wird, das eine Kerze entzündet – in allen Fällen haben wir es mit dem Prinzip der Rube-Goldberg-Maschine zu tun. Es demonstriert anschaulich und allerliebst die menschliche Fähigkeit, mit einem Maximum an Aufwand zu minimalen Ergebnissen zu kommen.

Ein Sitz mit 360 verschiedenen Sensoren
Die neue, unsichtbare japanische Rube-Goldberg-Maschine führt die Technologien zur Identitätserkennnung in eine neue Dimension: Es ist ein Autositz mit Hinternerkennung – um es mal sportlich zu skizzieren. Ein Sitz, der mit 360 verschiedenen Sensoren ausgestattet ist, die Informationen wie Körpergewicht, den Druck, der auf verschiedene Teile des Sitzes einwirkt oder die komplexe Art und Weise, wie ein Körper mit einem Autositz Kontakt aufnimmt, zu einem verrechenbaren Gesamtbild zusammenzufügen versucht. Eine Rube-Goldberg-Maschine eben.

Gedacht ist das Ganze als fortschrittliche Diebstahlssicherung. Sollte der Sitz zu dem Schluß kommen, dass der Hintern, der sich gerade in ihn niedergelassen hat, nicht der des Fahrzeughalters ist, weigert sich das gesamte Fahrzeug, zu funktionieren. Der Anlasser startet erst, nachdem der Sitz sein OK gegeben hat. Die Entwickler sprechen von einer 98-prozentigen Wahrscheinlichkeit, mit der der jeweilige Eigentümer von dem Maschinenmöbel erkannt werde.

Was denkt sich der Sitz?
Die übrigen zwei Prozent bedeuten: Ein komplexer, sensorgespickter Sitz im Auto sorgt dafür, dass der Eigentümer des Fahrzeugs es gelegentlich nicht benutzen kann. Mancher Fahrzeugbesitzer könnte das als störend empfinden. Was meint der Sitz zum Beispiel, wenn man sein Auto mal an einen Bekannten verborgt? Oder wie geht er mit Menschen um, die gerade eine Crash-Diät absolviert haben oder sich nach einem dreiwöchigen Urlaub im Mehlspeisparadies mit ein paar Kilo mehr wieder in das heimische Fahrzeug wuchten?

Möchte ich von meiner Toilette erkannt werden?
Es gibt inzwischen Prototypen eines intelligenten Badezimers mit einer Toilette, die Bewohner erkennt und sich je nach Größe und Kondition automatisch auf die passende Höhe einstellt, dazu einem Fußboden, der als Waage funktioniert. Aber: Möchte ich von meiner Toilette erkannt werden? Oder scheint sowas nicht eher eine Idee aus einem unentdeckten Manuskript von George Orwell zu sein, das er nach drei schlaflosen Nächten mit einer Durchfallerkrankung verfaßt hat? Ein rechnergestützt nutzererkennender Toilettensitz – was für ein Aufwand! Was für ein Bündel an störanfälligen Bestandteilen. Ein rutschsicherer Aufsatz für die Klobrille, mit dem sich die Sitzhöhe variieren läßt, löst das Problem längst für ein Hundertstel an Kosten und Konstrukteursgenialität.

Eine Ingenieurserfindung
Ebenso darf man sich fragen, ob es sich bei einem zu 98% funktionalen Autosesselinnenleben mit 360 Sensoren nicht vielleicht doch um das handelt, was man eine „Ingenieurserfindung" nennt – eine rubegoldbergkomplizierte Innovation, deren Notwendigkeit nur Vertreter der eigenen Zunft einzusehen vermögen. Das Maschinarium ist wie gesagt unter dem Sitzaufbau verborgen und also auch nicht gewillt, als Designerstück zu fungieren. Nichtkomischer Unsinn.

Sesselbetriebssysteme und Sitzmöbelklagen
Immerhin kann man sich vorzustellen versuchen, wie nicht nur Autositze, sondern beispielsweise auch im öffentlichen Raum aufgestelltes Gestühl wie Parkbänke oder Schalensitze in Buswartestellen den Charakter der Menschen, die auf ihnen sitzen, erfassen und, wie es sich für eine immer transparentere Gesellschaft gehört, auch gleich bekanntgeben. Ich sehe erste Gerichtsverfahren vor meinem geistigen Auge, in denen jemand gegen ein beleidigendes Sitzmöbel klagt. Ich sehe Sesselbetriebssysteme mit schmeichlerisch-verlogenen Komplimentgeneratoren. Und ich sehe Autos, deren arscherkennende Sitze den berühmten Aston Martin DB5 mit dem Schleudersitz aus dem James-Bond-Film „Feuerball" von 1965 ins 21. Jahrhundert herübermodernisieren. Für diese Inspiration immerhin wollen wir den japanischen Ingenieuren danken.

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Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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