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Peter Glaser: Zukunftsreich

Wir basteln uns einen Mythos

„Was zum Teufel ist Electronic Mail?“, fragte sich 1977 ein Angestellter, dem vor Schreck die Krawatte flatterte, an seinem Schreibtisch – vor ihm die funkenstiebende Spur von etwas wie einer superschnell davongesausten Fee. E-Mail war damals schon fünf Jahre alt, aber immer noch eine exotische Sache.

1972 hatte Ray Tomlinson, ein stiller Ingenieur bei der Firma Bolt Beranek & Newman (BBN) in Cambridge, Massachusetts, die erste E-Mail verschickt. BBN hatte vom US-Verteidigungsministerium den Auftrag erhalten, die Hardware für das Arpanet zu entwickeln, den Vorläufer des heutigen Internet. Tomlinson hatte ein kleines Programm geschrieben, mit dem man Nachrichten übers Netz verschicken und empfangen konnte, und als er nach einem Zeichen suchte, mit dem in der E-Mail-Adresse der Name des Nutzers von dem der Maschine getrennt werden sollte, entschied er sich für das @ – und hatte, ohne es zu ahnen, das Symbol des digitalen Zeitalters gefunden.

Klingt nach einem historischen Moment

Seinen Anteil am Eintritt in dieses Zeitalter möchte auch das Karlsruhe Institute of Technology (KIT) kundtun, das 2006 in Folge einer „Exzellenzinitiative“ aus einem Zusammenschluß des ehemaligen Kernforschungszentrums Karlsruhe und der Universität Karlsruhe hervorgegangen ist. Unter „Starke Geschichte“ steht auf der Website des KIT vermerkt: „1984 wird in Karlsruhe die erste E-Mail empfangen.“

Am 3. August 1984 - vor genau 30 Jahren also - „landete um 10:14 Uhr mitteleuropäischer Zeit die erste E-Mail im Postfach von Michael Rotert aus dem Team der Informatik-Rechnerabteilung (IRA) unter der Leitung von Professor Werner Zorn. Mit den Worten ‘This is your official welcome to CSNET. We are glad to have you aboard‘, begrüßte die US-Amerikanerin Laura Breeden, Mitarbeiterin des CSNET Koordinations- und Informationszentrums am MIT in Boston die neuen deutschen Mitglieder des Netzwerkes.”

Waren E-Mails vor 1984 keine E-Mails?

Die erste E-Mail in Deutschland, das hört sich nach einem historischen Moment an. Fragwürdig ist allerdings, wie die Karlsruher Internet-Pioniere sich das Ereignis zurechtgebogen haben – indem sie nämlich selbst definieren, was eine E-Mail ist (und was nicht). Dass die angebliche Premiere keine war, wird etwas verdruckst nachgereicht: „Zwar wurden in Deutschland bereits vor dem August 1984 E-Mails versendet und empfangen, bei der Karlsruher Nachricht handelt es sich jedoch um die Erste, die an einen eigenständigen deutschlandweit verfügbaren E-Mail-Server über das Internet ging.“

Die E-Mails, die davor bereits verschickt und empfangen wurden, waren keine E-Mails? So schreibt man Starke Geschichte.

„E-Mails“, schreibt etwa der Grazer Universitätsprofessor Hermann Maurer, „wurden in Österreich schon im Rahmen von BTX im Jahre 1980 verschickt.“ Maurer war damals Entwicklungsleiter des MUPID, eines Geräts zur Teilnahme am Bildschirmtext-System (BTX), das bereits einige Funktionen des Internets vorwegnahm.

Und der Informationsdienst Wissenschaft hält fest: „In den 80er Jahren begann das Internetzeitalter in Deutschland – und die Dortmunder mischten und mischen kräftig mit. Der erste deutsche e-mail-Rechner wurde 1983 in Dortmund in Betrieb genommen.” In einer Anleitung „Mail lesen und verstehen” erwähnt Anke Goos, eine der damaligen Administratorinnen im Rechenzentrum der Universität Dortmund („unido”), unter anderem ein Mail-Programm aus dem Jahr 1983.

Das erste öffentliche Computernetz Chinas

Dabei hätten sie in Karlsruhe solche übertriebenen PR-Stunts gar nicht nötig. An der Universität Karlsruhe wurde durchaus Beachtliches in Sachen Vernetzung geleistet. So startete 1986 das Institut für Computerwissenschaft in Peking in Zusammenarbeit mit der Uni Karlsruhe das China Academic Network (CANET) - das erste öffentliche Computernetz Chinas. Acht Jahre später, am 15. Mai 1994, ging der erste chinesische Webserver ans Netz – und in der Woche darauf wurde der Rootserver, der die Netzadressen der China-Domain .cn verwaltet, von Deutschland nach China transferiert.

Im übrigen war E-Mail von Anfang an ein Renner. Der schnelle Anstieg der Netzlast durch E-Mail wurde zur großen Triebfeder für die Entwicklung und das Wachstum des frühen Netzes. Bereits 1973 ergab eine Untersuchung, dass E-Mail drei Viertel allen Netzverkehrs ausmachte. Inzwischen laufen weltweit pro Tag hunderte Milliarden E-Mails durchs Netz (neunzig Prozent davon sind Spam).

Von Goethe bis Gegenwart

In unseren Breiten kann E-Mail als moderne Form des Briefschreibens auf eine große Tradition zurückblicken. Im 18. Jahrhundert entstanden ganze Briefromane wie Goethes „Werther” und Hölderlins „Hyperion”. Zur selben Zeit wurden zahlreiche Leitfäden zur Abfassung von Briefen geschrieben, so die „Anweisung zu Teutschen Briefen” von Benjamin Neukirch („der artige zug, mit welchem der cavalier seinen brief anfänget, fortführet und schlüsset, ist das fürnehmste, was ihn von gemeinen geistern unterscheidet”). Heute heissen die Leitfäden „Netiquette” und der Stil ist salopp.

Der große Vorteil von E-Mail ist ihre Leichtigkeit, der Nachteil die dadurch begünstigte Schlamperei. J.C.R. Licklider, einer der Väter des Internet, sah aber auch darin einen Vorteil: „Man kann eine Nachricht schnell und unperfekt schreiben, auch an jemanden, der älter oder höhergestellt ist oder der einen kaum kennt, ohne dass es einem der Empfänger übelnähme.”

E-Mail hat die Art, wie wir miteinander kommunzieren, tiefgehend verändert, das aber nicht immer nur zum Positiven. Mit dem Mißbrauch von E-Mail-Anhängen begannen die Computervirus-Pandemien, und nicht nur Spam-Fluten verstopfen die Postfächer. Da E-Mails schneller, bequemer und billiger sind als jeder Papierbrief, werden immense Mengen davon produziert. In manchen Unternehmen wird deshalb inzwischen mit E-Mail-freien Tagen experimentiert. Mag E-Mail manchmal auch mühsam oder nervig sein – missen möchten wir sie jedenfalls nicht.

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Peter Glaser

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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