© REUTERS/Dylan Martinez

Proteste

Die Macht der vernetzten Massen

Das Video zeigt eine Gruppe von Leuten, die eine Straße entlangläuft. Im Hintergrund sind Rauchschwaden zu sehen. Am Himmel kreist ein Hubschrauber. Wenig später fällt ein Schuss. Ein schwarzgekleideter Mann fällt zu Boden. Solche Bilder der Gewalt gegen Demonstranten trugen dazu bei, dass der Unmut der tunesischen und ägyptischen Bevölkerung über ihre Machthaber wuchs. Sie wurden auf der Online-Videoplattform YouTube veröffentlicht und über Blogs, den Kurznachrichtendienst Twitter und das soziale Netzwerk Facebook in Windeseile verbreitet.

„Das Internet hat in Ländern wie Tunesien und Ägypten eine große Rolle bei der Mobilisierung zu Demonstrationen und der Schaffung einer Weltöffentlichkeit gespielt“, sagt Markus Beckedahl, der den Blog Netzpolitik.org betreibt und die Berliner Social-Media-Konferenz re-publica mitorganisiert. „Über soziale Medien konnten Videos verteilt, Informationen über Demonstrationen in Umlauf gebracht und eine kritische Masse erreicht werden.“

„Dinge, die wahrscheinlich ohnehin passiert wären, sind wesentlich schneller, intensiver und überraschender passiert“, meint der Schriftsteller und Journalist Peter Glaser: „Die sozialen Medien waren sicherlich nicht der Auslöser der Aufstände, aber sie haben die Funktion eines Katalysators oder Beschleunigers gehabt.“

„Klägliche Rolle“
Der Wiener Netzaktivist und Leiter des World Information Institute, Konrad Becker, beurteilt die Rolle der sozialen Medien bei den Aufständen im arabischen Raum skeptisch. „Die Nutzung dieser Netzwerke beschränkt sich auf einen kleinen Teil der Bevölkerung“, sagt Becker. Die in den sozialen Netzwerken kursierenden Informationen würden nämlich auch von den Machthabern selbst benutzt und gegen die Leute verwendet.

Darüber hinaus hätten die Netzwerkbetreiber eine klägliche Rolle gespielt. So seien etwa arabische Nutzer von Facebook gesperrt worden, weil sie nicht ihren richtigen Namen verwendeten und damit gegen die Nutzungsbedingungen verstießen. Den sozialen Medien schreibt er aber auch positive Effekte zu: „Sie können Solidarität schaffen und Aufmerksamkeit erzeugen.“

Lehrstück in Deutschland
Auch Deutschland erlebte in der vergangenen Woche ein kleines Lehrstück über die Macht der vernetzten Massen. Der in eine Plagiatsaffäre verstrickte Verteidigungsminister Karl-Theodor Guttenberg gab am Dienstag trotz Rückendeckung des Boulevardblattes „Bild“ seinen Rücktritt bekannt, nachdem der öffentliche Druck auf ihn zu groß geworden war.

Zuvor hatten zahlreiche ehrenamtliche Mitarbeiter auf dem Wiki GuttenPlag die Plagiatsvergehen in der Doktorarbeit des Ministers penibel dokumentiert. Das Wiki fungierte als für jeden einsehbarer Beweis für die Verfehlungen des Ministers. In sozialen Netzwerken und auf der Kurznachrichtenplattform Twitter wurde es genüsslich zitiert. Auch die traditionellen Medien kamen daran nicht vorbei. Zwei Tage nach dem Start der Seite berichtete bereits die Tagesschau zur Hauptsendezeit über die Plagiatssuche im Netz.

 „Neue Form der Netzwerköffentlichkeit“
„Guttenberg, der erste Minister, den das Internet gestürzt hat“, notierte der deutsche Medienökonom und Strategieberater Robin Meyer-Lucht in dem von ihm gegründeten Blog Carta. „Das ist natürlich übertrieben“, sagt Meyer-Lucht. „Es war jedoch das erste Mal, dass das Internet bei einem Ministerrücktritt eine maßgebliche Rolle gespielt hat.“

Bei den Vorgängen rund um den Guttenberg-Rücktritt habe sich eine neue Form der Netzwerköffentlichkeit manifestiert, so Meyer-Lucht. „Heute bestimmen nicht mehr ausschließlich die klassischen politischen und medialen Eliten die Agenda."

Alles ist relativ
Obwohl nach den Vorfällen in Ägypten, Tunesien und Deutschland soziale Netzwerke als „die neue Macht“ bezeichnet werden, warnt der Wiener Politikwissenschaftler Hubert Sickinger vor allzu großer Euphorie. „Online-Demokratie gibt es in der Form nicht, sie ersetzt nicht den Druck, der vom Protest auf der Straße ausgeht.“ Protest, der im Web entsteht, würde heute zwar schneller von den Medienhäusern wie Zeitungen und Rundfunkanstalten übernommen, allerdings müsse alles relativ gesehen werden. Die Medien hätten erstaunlich unreflektiert von der Guttenberg-Unterstützungsaktion auf Facebook berichtet. Etwa 550.000 Facebook-Mitglieder sind der Gruppe „Wir wollen Guttenberg zurück“ beigetreten. „Dividieren Sie durch zehn, dann kommen Sie auf ein österreichisches Zahlenverhältnis“, sagt Sickinger. Beispielsweise seien der Facebook-Gruppe „Kann dieser seelenlose Ziegelstein mehr Freunde haben als H.C. Strache?“ knapp 180.000 Facebook-User beigetreten und HC Strache sei nach wie vor FPÖ-Chef. "So etwas ist sicherlich eine beachtenswerte öffentliche Meinungsäußerung aber eben nicht mehr."

Dass aber akkordierte Aktionen via Web 2.0 oder Handy erfolgreich sein können, sei in Österreich mehrfach bewiesen worden. So die Studentenaktion „Uni brennt“ oder die Donnerstagsdemonstrationen während der Schwarz-Blauen Koalition. Schüssel selbst hatte zu seinem Amtsantritt gesagt, dass „die 68er und die Internet-Generation“ gegen ihn seien.

Politikwissenschaftler und Korruptionsforscher Sickinger antwortet auf die Frage, ob das Internet besser gegen Korruption eingesetzt werden könnte, mit einem „Naja“. „Man kann natürlich durchaus geheime Akten deponieren, aber das hat es auch vor dem Web 2.0 gegeben.“ Jetzt sei es einfacher, weil man es quasi per Mausklick erledigen könne. Man könne heute aber auch Politiker direkter und rascher erreichen. Musste man früher eine Veranstaltung besuchen, um einen Politiker zu treffen, schickt man ihm heute eine E-Mail. „Und darauf muss reagiert werden, möglichst schnell.“

„Das Zusammenspiel zwischen traditionellen Medien und der vernetzten Öffentlichkeit hat zum ersten Mal gut funktioniert“, meint Netzpolitik.org-Blogger Beckedahl. Das Internet habe aber nur eine kleine Rolle gespielt: „Guttenberg ist über sich selbst gestolpert. Er war arrogant und hat ein schlechtes Krisenmanagement gehabt.“

Die Causa Guttenberg könne zu einem Präzedenzfall für ganz Europa werden, ist der deutsche Soziologe und Sprecher des Bundesverbands deutscher Soziologen, Alfred Fuhr überzeugt. „Die Elite sollte sich warm anziehen, denn das Netz ist schneller als einstweilige Verfügungen oder politische Seilschaften.“ Das Netz mache es möglich, dass die Internet-Gemeinde praktisch auf Knopfdruck Sachverhalte, Behauptungen und Richtigkeit von Aussagen kontrollieren kann. „Glaubwürdigkeit ist nun einmal die Währung, mit der wir politisches Vertrauen messen.“

Guttenbergs Niederlage gegen die Weisheit der empörten Vielen sei nur der Auftakt für weitere Enthüllungen von Webfehlern in den Lebensläufen so mancher Politiker. Fuhr: „Frau Merkels Doktorarbeit gilt derzeit als unauffindbar. Ich bin sicher, dass hier auch Menschen aus dem Netz schneller sein können als Journalisten, wenn es um die Gründe dafür geht.“

Nachgehakt
Akzeptanzverlust werde in den Netzwerkgesellschaften sehr schnell sichtbar, meint Meyer-Lucht. Im Internet werde darüber hinaus nachgehakt, Themen würden beharrlicher behandelt. Das GuttenPlag Wiki zeige auch neue Formen der gesellschaftlichen Informationsverarbeitung auf. Während etwa das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ Guttenberg lediglich 60 Plagiatsstellen nachweisen konnte, fanden die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Online-Plattform in derselben Zeit mehr als 300 fragwürdige Textpassagen.

In Europa sei das Netz „in der Mitte angekommen“, die vernetzte Öffentlichkeit wachse jeden Tag, sagt Beckedahl. „Wir gewöhnen uns an die immer einfacher werdenden sozialen Medien.“ Ob das Netz bei der Mobilisierung hilft, hänge jedoch stark von den Themen ab.

Für den deutschen Soziologen Alfred Fuhr ist das Internet drauf und dran, dem Medium Fernsehen den Rang als die Nummer 1 der parasoziales Vertrauen schaffenden Medien abzunehmen. „Das sieht man daran, dass Fernsehen mehr und mehr gezwungen ist, mit dem Internet in der Berichterstattung zu kooperieren“, sagt Fuhr. „Es wirkt damit an seinem eigenen Untergang mit.“ Soziale Netzwerke würden schneller und einfacher als Integrationssystem aufsteigen und diese Kommunikationssysteme seien intelligenter und evolutionär nachhaltiger als die bestehenden Institutionen.

Geht in der Internet-Ära wieder vermehrt die Macht vom Volke aus? Fuhr: „Was heißt wieder? Die Frage ist nur, wie sich „das Volk“ organisiert. In Deutschland gab es auch schon vor dem Internet eine Revolution, die „Wir sind das Volk“ rief und ein Regime stürzte.“ In sozialen Netzwerken können Bevölkerungsgruppen virtuell spontan oder über längere Zeit kommunikativ austauschen, abstimmen.“ Lediglich in China und einigen Staaten in Asien sei dies noch nicht so weit. „Die Institutionen und Organisationen, die sich um die Gewaltenteilung politisch streiten und die politische Macht aushandeln, sind evolutionär primitiver, weil sie auf Anwesenheit und face-to-face Kommunikation, Mafia Methoden, das Gesetz des Schweigens, die Bewahrung von Geheimnissen aufgebaut sind. Mit der weiteren Evolution der sozialen Netzwerke wird dies aber nicht mehr oder immer schwerer möglich sein.“

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