© Gregor Gruber

Hands-On

Angetestet: Nokias Hoffnungsträger N9

Gleich beim Erstkontakt sticht das Gehäuse-Design des Nokia N9 ins Auge. Speziell die Farben Rosa und Babyblau sind Eyecatcher – und Geschmackssache. Auf den ersten Blick wirkt das N9 so, als hätte man eine poppig-farbige Schutzhülle über ein aktuelles Smartphone gezogen. Für Nutzer die es dezenter bevorzugen, gibt es aber auch eine schwarze Version. Die farbigen Gehäuse sind aus einem durchgefärbten (nicht lackierten) Block Polycarbonat gefräst. Üblicherweise werden Plastikteile geformt, gepresst oder gegossen. Durch die Fräsmethode wird die Stabilität erhöht.

Das Plastik-Gehäuse ist fix am N9 angebracht, der Akku kann nicht durch den Nutzer gewechselt werden. Ein MicroSD-Slot ist ebenfalls nicht vorhanden, da das N9 ohnehin mit 16GB oder 64GB internem Speicher ausgeliefert wird. Inhalte können einfach per USB und Drag-and-Drop zum Smartphone übertragen werden. Der MicroSIM-Kartenslot befindet sich, genau wie der MicroUSB-Anschluss (im Vorserienmodell noch kein MHL-Anschluss), an der Oberseite. Der TV-Ausgang ist beim N9 über die 3,5mm-Klinke möglich. Laut Nokia wurde nicht etwa ein MicroSIM-Slot gewählt, damit iPhone-4-Nutzer leichter wechseln können, sondern einfach nur, weil er kleiner ist als ein normaler SIM-Steckplatz. Der Mono-Lautsprecher befindet sich an der Unterseite, anstatt wie bei vielen anderen Smartphones an der Rückseite. So kommt der Ton auch gut zur Geltung, wenn das N9 auf einem Tisch liegt. Wunder darf man sich von dem Mono-Speaker aber nicht erwarten – für die Beschallung hat Nokia eigenes Zubehör (siehe unten) vorgestellt.

Handling und Display
Das Polycarbonat ist leicht angeraut, die Rückseite und die Kanten sind abgerundet. Das N9 liegt dadurch sehr gut in der Hand. Auch das Plastik, obwohl es in den Zuckerlfarben wie Gummi aussieht, fühlt sich massiv und wertig an. Die Größe des 3,9-Zoll-Displays ist gut dimensioniert, ein Bedienen des N9 ist einhändig möglich, ohne den Daumen zu überdehnen.

Positiv überrascht die Qualität des AMOLED-Displays. Die Darstellung ist sehr kontrastreich, die Farben kräftig, Symbole und Schriften scharf. Obwohl die Auflösung mit 854x480 Pixel niedriger als beim iPhone 4 ist, kann das N9 mit dessen Darstellungsqualität mithalten. Grund hierfür ist zum einen das leicht gewölbte Gorilla-Glas-Display, dass einen kaum bewusst wahrnehmbaren räumlichen Effekt verursacht. Zum anderen ist das Display extrem nahe unter dem Glas angebracht – laut Nokia wurde dies durch ein neues Verklebungsverfahren möglich.

Knopflos glücklich
Das Nokia N9 wird das erste Smartphone sein, dass offiziell mit MeeGo ausgeliefert wird. Die Benutzeroberfläche ist so ausgelegt, dass das N9 fast ohne Tasten auskommt. An der Front gibt es weder physische noch Softtouch-Tasten, nur auf der rechten Seite ist die Lautstärkeregelung und der Ein/Ausschalte/Standby-Knopf. An der Vorderseite findet man lediglich die Front-Kamera, die rechts unten positioniert ist. Werden die Menschen aus dieser Perspektive gefilmt, sehen sie laut Nokia (der finnische Konzern hat dazu eine Studie erhoben) freundlicher aus. Das konnte leider noch nicht nachgeprüft werden, da im Vorserienmodell die Frontkamera in der Kamera-App noch nicht genutzt werden konnte.

Auch der für Noka-Handys typische Kamera-Auslöseknopf musste weichen. In der Kamera-App wird über den Touchscreen fokussiert und ausgelöst. Die Kamera hat 8 Megapixel und nimmt die Fotos im 16:9-Format auf. Der Xenonblitz des Nokia N8 wurde nicht übernommen – stattdessen gibt es einen Smartphone-üblichen Dual-LED-Blitz.

Wischen statt drücken
Die Menüführung ist komplett auf Wischbewegungen ausgelegt. Nach dem Öffnen des Lockscreens sieht man den zuletzt geöffneten Homescreen. Insgesamt gibt es drei Homescreens. Der Erste zeigt alle Benachrichtigungen an – von eingegangenen SMS und E-Mails über Facebook, Twitter und andere Updates. Der zweite Homescreen zeigt die Icons der installierten Programme und Apps. Der dritte Homescreen ist eine Kachelansicht der geöffneten und im Hintergrund laufenden Programme.

Richtet man beim N9 E-Mail-Konto oder soziales Netzwerk ein, werden die Benachrichtigungen dafür automatisch im ersten Homescreen angezeigt. Will man Updates nur über die entsprechende App aufrufen, kann man nachträglich die Benachrichtigungen deaktivieren. Dazu muss man aber in die N9-Systemeinstellungen – eine Schnelleditier-Option, die etwa durch längeres Gedrückthalten eines Eintrages im Benachrichtigungs-Homescreen aufgerufen wird, gibt es nicht. Die wichtigsten sozialen Netzwerke und Webdienste wie Facebook, Twitter, Flickr und Google sind vorinstalliert. Business-User werden vielleicht LinkedIn oder Xing vermissen. Entsprechende Apps wird es aber ohnehin im Ovi Store geben. Nokia zufolge werden die Daten von Apps, die regelmäßig abgefragt werden, zu Datenpaketen gebündelt. Anstatt also Twitter, Facebook und die E-Mails zu drei unterschiedlichen Zeitpunkten abzufragen, werden sie immer gleichzeitig aktualisiert. Das soll den Akku und das Datenvolumen schonen.

Apps und Multitasking
Im zweiten Homescreen werden die installierten Apps als Icons angezeigt und von oben nach unten durchgescrollt. Will man etwa einen Schnellzugriff auf eine Website haben, kann man über den Browser diese als Icon ablegen. Und im Gegensatz zu Symbian^3 ist das Icon diesmal ein Screenshot der Website und nicht bloß ein neutrales Icon, das keinen Rückschluss darauf zulässt, welche Website sich dahinter verbirgt. Laut Nokia wird es möglich sein, die meisten Symbian-Apps aus dem Ovi Store für das N9 zu verwenden. Je nach App wird diese dann aber gestreckt oder mit schwarzen Balken versehen, da das Display des N9 eine höhere Auflösung hat. Nokia zufolge sei es aber nur ein geringer Aufwand bestehende Apps für MeeGo anzupassen. Demonstriert wurde dies mit FAK Austria Wien App.

Hat man gerade eine App offen und wischt diese in eine beliebige Richtung weg, kommt man zurück auf den zweiten Homescreen. Die App landet im dritten Homescreen. Hier sind alle geöffneten Programme zu sehen. Per Multitouch kann hinein- und hinausgezoomt werden, um mehr oder weniger Kacheln gleichzeitig zu sehen. Die zuletzt genutzte App wird ganz oben angezeigt. Um eine App aufzurufen, einfach mit dem Finger draufdrücken. Lässt man den Finger auf dem Bildschirm gedrückt, kann man unerwünschte Programme durch einen Klick auf das rote X schließen. Alle Apps laufen in Echtzeit weiter, solange sie nicht geschlossen sind. So bewegt sich die Nadel der Kompass-App in der Kachelansicht des dritten Homescreens entsprechend der Ausrichtung des Handys.

Leistung
Für genaue Leistungstests ist es noch etwas zu früh. Aber schon das Vorserienmodell lief stabil und ruckelfrei, obwohl über 15 Programme im Hintergrund geöffnet waren und konstant E-Mails und Facebook-Updates abgerufen wurden. Der Browser arbeitete ebenfalls schnell. HTML5 wird unterstützt, Flash nicht. Ein Doppelklick vergrößert das Bild und passt den Textfluss auf die Display-Breite an. Im Hochformat war die Schrift hier aber etwas zu klein. Nutzt man zwei Finger zum Hineinzoomen, wird der Textfluss nicht angepasst. Ungewohnt ist der Verzicht auf Tab-Browsing. Öffnet man im Browser ein neues Fenster und will zum vorherigen zurück, muss man den Browser wegwischen, zu den Homescreen mit den offenen Programmen wischen und dort das vorherige Browserfenster öffnen. Aber auch hier können Browser von Drittanbietern im Ovi Store Abhilfe schaffen.

Ein wenig ins Stottern geriet die „Drive“-App beim Zoomen in der 3-D-Ansicht (mit 3-D-Gebäuden) aber auch diese Software ist noch nicht finalisiert. „Drive“ ist Nokias kostenlose Turn-by-Turn-Navigation und ergänzt Ovi Maps.

NFC
Das N9 hat ein NFC-Modul eingebaut. Dies soll aber vorerst nicht für die bargeldlose Zahlung verwendet werden, sondern für Pairing. Über NFC können etwa zwei Smartphones Daten austauschen. Mit dem N9 wird aber auch NFC-Zubehör erscheinen, wie etwa Nokias Play 360. Der portable, akkubetriebene Lautsprecher (bis zu 20 Stunden Wiedergabe, Aufladen per Micro-USB-Ladekabel) strahlt Sound in alle Richtungen aus. Der kleine Krachmacher hat sogar einen Tieftöner eingebaut, der passable Bässe erzeugt. Hält man das N9 kurz an dem Lautsprecher, wird per NFC das Pairing vorgenommen. Das Streaming der Musik findet dann über Bluetooth statt, mit NFC erspart man sich das mühsame Einrichten und Koppeln der Geräte. Koppeln können sich auch zwei Play 360 Lautsprecher, die dann als Stereo-Lautsprecher agieren.

Das zweite NFC-taugliche Zubehör ist ein Bluetooth-Kopfhörer, das es in den N9-Farben Rosa, Blau und Schwarz geben wird. Auch hier gilt: Einfach das N9 an die Steuerungseinheit der Kopfhörer halten und schon ist es damit verbunden.

Eindruck
Das N9 beseitigt vor allem zwei Kritikpunkte früherer Nokia-Smartphones: das niedriger auflösende Display als bei der Konkurrenz und die Menüführung. Mit dem Abgang von Symbian und dem Bekenntnis zur Einfachheit der Bedienung wird zwar auf Widgets verzichtet, dafür bietet sich aber ein ein- und durchgängiges Smartphone-Erlebnis.

Ein wenig Feintuning ist noch beim Wischen nötig. So wurde eine schnelle Wischbewegung beim Lockscreen nicht immer auf Anhieb registriert. Gewöhnungsbedürftig ist auch, dass man zum Wegwischen einer App immer in der Mitte des Displays und recht schnell wischen muss. Der Grund dafür: Würde die App zu leicht zum Wegwischen gehen, könnte man etwa unabsichtlich den Browser verlassen, anstatt auf der Website zu scrollen. In anderen Situationen wird die Wischerei bereits intelligent umgesetzt. So wird bei der Onscreen-Tastatur mit einem Wisch zwischen den Tastatursprachen, etwa deutscher und englischer Tastatur mitsamt Wortkorrektur und -vorschlägen, gewechselt.

Für die Optimierungen und um die Apps im Ovi Store MeeGo-tauglich zu machen, hat Nokia noch etwas Zeit. Das N9 soll noch dieses Jahr erscheinen. Einen offiziellen Starttermin gibt es noch nicht. Um für das Weihnachtsgeschäfts gerüstet zu sein, ist ein Start im Oktober oder November jedoch wahrscheinlich.

Hat dir der Artikel gefallen? Jetzt teilen!

Gregor Gruber

Testet am liebsten Videospiele und Hardware, vom Kopfhörer über Smartphones und Kameras bis zum 8K-TV.

mehr lesen
Gregor Gruber

Kommentare