Bionik

Gedankensteuerung für Prothesen über Umwege

Menschen, die wegen Schäden an Nerven oder anderen mechanischen Beeinträchtigungen die Funktion einer Hand verlieren, können sich in Wien mit intelligenten Prothesen ausrüsten lassen. Im weltweit einzigartigen Zentrum für bionische Rekonstruktion der Meduni Wien statten Oskar Aßmann und sein Team Patienten mit mechanischen Ersatzgliedmaßen aus, die über Muskelsignale gesteuert werden können. Derzeit sorgen die Ärzte mit eine Veröffentlichung in der britischen Fachzeitschrift The Lancet für Aufregung, in der sie drei besondere Fälle dokumentiert haben. In der internationalen Presse werden die Patienten teilweise schon als Cyborgs bezeichnet.

“Es handelt sich um Plexuspatienten, bei denen massive Nervenschäden dazu geführt haben, dass sie keine Handfunktionen mehr haben. Diesen Patienten haben wir den Musculus gracilis, einen kleinen Strang aus dem Oberschenkel, in den Arm verpflanzt und dort mit Nerven und Gefäßen verbunden. So nutzen wir das biologische System des Muskels zur Steuerung”, erklärt Oskar Aßmann gegenüber der futurezone. Einigen der Patienten wurden vor der Muskelverpflanzung die noch vorhandenen, aber unbrauchbaren Gliedmaßen abgenommen, laut Aßmann die einzige Chance in diesen Fällen. Elektive Amputationen sind in der Traumachirurgie nicht ungewöhnlich, da die Verletzungsgefahr unter Umständen hoch ist und viele Patienten den gefühllosen Anhang als Belastung empfinden.

Muskel übersetzt Gedanken

Insgesamt wurden in Wien bisher zehn Patienten mit bionischen Prothesen ausgestattet. Darunter waren auch Personen, deren Hände aufgrund mechanischer Schäden, in einem Fall etwa einen Arbeitsunfall mit Stahlwalzen, nicht mehr funktionstüchtig waren. “In diesen Fällen können wir die noch vorhandene Muskulatur verwenden und noch bessere Ergebnisse erzielen”, sagt Aßmann. Die Verwendung der Muskeln zur Steuerung hat gegenüber anderen Gedankensteuerungstechnologien den Vorteil, dass sie bereits gut erprobt ist. “Die Steuerung mittels EEG ist bisher nur an zwei Patienten im Labor erprobt worden und erlaubt nur grobe Bewegungskontrolle. Ein direktes Ansteuern der Prothesen über Nerven hinterlässt Schäden an der Faser, zudem verstehen wir die Sprache der Nerven nicht, weder aktiv noch passiv”, erklärt Aßmann.

Mit der Steuerung über Muskeln können die Forscher hingegen bereits eine erstaunlich genaue Kontrolle über die Prothesen erreichen. “Eine normale Hand verfügt über unendlich viele Freiheitsgrad. Mit unseren Prothesen sind sechs Freiheitsgrade derzeit das Limit”, sagt Aßmann. Das gilt allerdings nur für Patienten, bei denen noch Muskeln vorhanden sind. Die Träger steuern ihre Prothesen, indem sie einen Muskel an- beziehungsweise entspannen. Das Signal ist dabei Analog, je fester der Muskel bewegt wird, desto stärker auch die Reaktion der Prothese. “Muskeln sind ein optimales Interfaces, weil sie das Signal der Nerven nicht nur weiterleiten, sondern auch verstärken”, sagt Aßmann.

Verschiedene Fähigkeiten

Die Patienten, denen ein Muskel aus dem Oberschenkel eingesetzt werden muss, können maximal drei Freiheitsgrade einer Prothese steuern. Mit einem Muskel lässt sich zwar zu jedem Zeitpunkt nur eine Bewegung steuern, durch extrem festes Anspannen oder eine Art Doppelklick können sie aber zwischen drei Ebenen hin- und herschalten und so mehrere Freiheitsgrade kontrollieren. So kann die Hand nach links oder rechts gedreht, das Gelenk gebeugt oder die Hand geöffnet und geschlossen werden. Die Prothesen selbst lassen sich theoretisch über bis zu 27 Freiheitsgrade kontrollieren, das kann aber kein Patient bewältigen.

Wie viele Funktionen einer Prothese angesteuert werden können, hängt nicht zuletzt vom Patienten ab. “Das bedarf einer kognitiven Leistung, ähnlich wie Klavierspielen. Nicht jeder kann dieselbe Virtuosität entwickeln. Am Ende kriegt aber meist jeder das, was er braucht”, sagt Aßmann. Den Umgang mit den Prothesen müssen die Patienten anfangs erst erlernen, Motivation ist dabei ein wichtiger Faktor. Wie leicht das fällt, hängt laut Aßmann auch davon ab, wie lange sie ihre Hände nicht mehr nutzen konnten. “Die Hirnareale verkümmern mit der Zeit, wenn jemand jahrelang keine Hand mehr steuern muss”, sagt der Arzt. Üblicherweise sind die Patienten aber nach drei bis sechs Monaten so weit, dass sie die Prothesen beherrschen. Allerdings werden sie auch danach noch ständig noch besser. “Leute, die zum ersten Mal einen unserer Patienten sehen, reagieren oft fassungslos, weil sie nicht glauben können, was mit so einer Prothese möglich ist”, erklärt Aßmann.

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Markus Keßler

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