Hersteller gibt bionisches Auge auf, Nutzer erblinden erneut
Einige Menschen erleben die traumatische Erfahrung blind zu werden ein zweites Mal. Wie IEEE Spectrum berichtet, handelt es sich dabei um Patient*innen, die mit einem bionischen Auge ausgestattet wurden.
In einem Gespräch mit IEEE Spectrum beschreibt Barbara Campell, wie sie zum zweiten Mal erblindet ist. Mitten in der New Yorker Rush Hour, in einer U-Bahn-Station. Als sie gerade die Stiegen runtergehen wollte, hörte sie ein Piepsen. Sekunden später war alles dunkel. Das Implantat, das es ihr ermöglichte rudimentär hell und dunkel zu sehen, fuhr herunter.
Vier Jahre nutzte sie Argus II von Second Sight, bevor es den Geist aufgab. Das Ganze passierte schon 2017. Second Sight konnte das Implantat damals nicht reparieren. Weil das Entfernen des defekten Implantats als gefährlich galt, entschied sie sich dafür, es im Auge zu lassen.
„Wir wurden gerade alle gekündigt“
Ein ähnliches Schicksal droht nun allen Menschen, die Argus II nutzen – selbst, wenn es nur um kleinere Defekte geht. 2020 stand das Unternehmen kurz vor der Pleite. Seitdem gibt es für Patient*innen keinen Support, keine Reparaturen und keine Ersatzteile mehr.
Informiert wurden die Patient*innen über das Schicksal des Unternehmens nicht. Ross Doerr, einer der Patient*innen, hörte Gerüchte. Im Frühjahr 2020 rief er bei Second Sight an, um sich wegen einem geplanten Software-Update für Argus II zu erkundigen und sprach seine Sicht-Therapeutin auf die Gerüchte an. Sie antwortete: „Was für ein Zufall, dass sie jetzt anrufen. Wir wurden gerade alle gekündigt. Und nebenbei, das Update werden sie nicht bekommen.“
Jeroen Perk ist einer der Argus-II-Patient*innen, die durch diese Firmenentscheidung bereits betroffen waren. Im November 2020 fiel die Grafikeinheit seines Argus-II-Systems von seinem Gürtel zu Boden und war defekt. Damit war das Implantat nutzlos. Unterstützung von Second Sight gab es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Perk hatte aber Glück. Er wandte sich an die Argus-II-Community und fand einen Arzt, der noch eine Grafikeinheit übrig hatte. Im Februar 2021 konnte er sein Argus II wieder nutzen.
So funktioniert Argus II
Weltweit gibt es etwa 350 Patient*innen mit Argus-Systemen. Argus II kostete in den USA 150.000 US-Dollar. Mit den Kosten für die Operation und Therapie steigt der Preis üblicherweise auf knapp 500.000 US-Dollar. In den meisten Fällen haben Versicherungen 80 Prozent der Kosten übernommen.
Argus II besteht aus dem Augen-Implantat, einer Brille mit Kamera und Transmitter und der Grafikeinheit, die am Gürtel getragen wird. Die Kamera filmt die Umgebung und sendet sie zur Grafikeinheit. Diese rechnet sie in Muster von 60 Pixeln um und schickt sie zum Transmitter. Der überträgt die Muster an das Implantat im Auge. Das Implantat nutzt Elektroden, um das Auge in der Form der Muster zu stimulieren. Dadurch werden mehrere Lichtblitze pro Sekunde erzeugt. Die Patient*innen „sehen“ dadurch rudimentär hell und dunkel.
Wie gut das „bionische Auge“ bei Patient*innen funktioniert, ist unterschiedlich. Einige können etwa einen Zebrastreifen sehen, weil die weißen Streifen auf der schwarzen Straße einen starken Kontrast abgeben. Andere Patient*innen gaben an, nicht einmal Formen erkennen zu können und nutzten das System nach einer Weile nicht mehr. Als ein Aushängeschild für Argus II galt Jeroen Perk. Er erblindete fast vollständig im Alter von 19 und bekam mit 36 Jahren Argus II. Nach ein paar Jahren konnte er damit Skifahren und sogar erfolgreich Bogenschießen.
Implantate verursachen Probleme
Das Verlieren des künstlichen Augenlichts, weil die Hardware von Argus nicht mehr funktioniert, ist nicht das einzige Problem für Patient*innen. Doerr wurde 2020 wegen starkem Schwindel ein MRT verordnet. Die Ärzte wollten einen Gehirntumor ausschließen. Laut Richtlinie muss vor dem MRT Second Sight kontaktiert werden, da das Implantat vom MRT gestört werden könnte. Bei Second Sight ging aber niemand ans Telefon, weil zu dem Zeitpunkt schon das Personal gekündigt war und Büromöbel, Computer und Telefone bei einer Auktion versteigert wurden. Das MRT wurde schließlich nicht gemacht. „Ich weiß bis heute nicht, ob ich einen Gehirntumor habe“, sagt Doerr.
Die Implantate, egal ob noch funktional oder defekt, stellen jedenfalls ein Risiko dar. In einer von der US-Behörde FDA angeordneten Untersuchung wurde festgestellt, dass es bei 30 Patient*innen, in den Jahren 2007 bis 2019, zu 36 ernsten und 152 nicht ernsten „Nebenwirkungen“ mit den Implantaten kam. Da Second Sight sich nicht mehr um Argus II kümmert, sind die Patient*innen und die Ärtz*innen, die sie behandeln, also auf sich gestellt.
Nachfolgeprojekt ist ein Hirn-Implantat
Eine Lösung für die Patient*innen scheint es nicht zu geben. Im Juli 2019 sagte Second Sight schon, die Weiterentwicklung von Argus einzustellen, zugunsten des Nachfolgeprojekts Orion. Orion ist ein Hirn-Implantat. Das damalige Versprechen, alle vorhandenen Argus-II-Systeme weiter zu unterstützen, wurde mit der Beinahe-Pleite Anfang 2020 natürlich nicht eingehalten. Im Juni 2021 wurden Aktien ausgegeben, mit dem Versprechen, Orion voranzutreiben. Anfang Februar 2022 wurde die Fusion mit einer Biopharma-Firma namens Nano Precision Medical angekündigt.
Gegenüber IEEE Spectrum sagt Nano Precision Medical, dass man den Wunsch habe, die beste Strategie für Orion zu finden. Argus II wird zwar nicht unterstützt aber „wir haben viel über die Erkenntnisse von Argus nachgedacht und wie wir nicht dieselben Fehler wiederholen.“
Für die Argus-II-Patient*innen ist das kein Trost. Viele sind auch skeptisch, ob sie auf Orion umsteigen würden, falls das Implantat jemals angeboten wird. „Wer soll denen ihr Marketing für Orion glauben?“, sagt Doerr. Für ihn und andere sei die Vorstellung ein Hirn-Implantat zu haben, das womöglich nach ein paar Jahren nicht mehr funktioniert und nur unter sehr hohem Risiko wieder entfernt werden kann, nicht besonders reizvoll.
Die aktuelle Situation wirft auch ernste Fragen auf - im Umgang mit Technologie im medizinischen Bereich. Offenbar müssen sich Patient*innen immer voll bewusst sein, dass auch medizinische Technologien überraschend nicht mehr unterstützt werden. Besonders schwierig ist es in diesem Fall für Patient*innen, die jahrelang Argus II verwendet und sich daran gewöhnt haben und es täglich nutzen. Für sie ist es, als würden sie erneut erblinden – die Frage ist lediglich, wann es soweit ist.