Ghostwire Tokyo im Test: Big in Japan, aber im Herzen Indie
Die Millionenmetropole ist leer. Keine Menschen – nur ihre Kleidung ist noch über. Es ist Nacht, ihr seid allein.
Im dichten Nebel taucht eine Silhouette auf. Gibt es doch noch jemanden, der nicht verschwunden ist? Langsam kommt die Gestalt näher. Sie ist 2 Meter groß, schlank. Sie trägt einen zerschlissenen Schirm – hatte der Mann auch einen Unfall?
Ihr geht auf ihn zu. Alles, was ihr seht ist sein verzerrtes Grinsen. Er hat keine Augen, keine Ohren, die Haut ist grau. Bedrohlich streckt er die knöcherne Hand nach euch aus. Was macht ihr?
Im Fall von Ghostwire: Tokyo (PS5, PC) schießt ihr mit eurer Fingerpistole grüne Strahlen in seine Brust und reißt ihm dann den Kern heraus. Dasselbe macht ihr bei seiner Posse, bestehend aus ein paar kopflosen Schulmädchen und einem Dämon der wie eine Mischung aus Carmen Sandiego und Lady Dimitrescu mit Gartenschere aussieht.
Dichter als der Nebel ist nur die Atmosphäre
Das oben beschriebene Szenario zieht sich durch das gesamte Spiel und das ist furchtbar schade. Denn Ghostwire: Tokyo ist unglaublich atmosphärisch und triggert mich auf mehreren Ebenen: Leere Metropole zum Erkunden, japanische Mythologie und beklemmend-interessanter Horror, statt plumpe Schreckmomente.
Das Game spielt in Tokio. Wie üblich für Open-World-Spiele wurde die Stadt konzentriert und eingeschrumpft. Es ist alles da, was man sich erwartet, nur eben weniger ausufernd. Es wirkt authentisch – so wie man sich als Spieler*in Tokio vorstellt, wenn man noch nicht dort war.
Die Nacht, der Nebel, die Neonschilder, das Gegnerdesign, die Hinweise auf den Alltag in Tokio (wenn mal nicht das Ende der Welt droht), das scharrende Geräusch wenn Feinde in der Nähe sind: alles trägt zur Atmosphäre bei und zieht richtig in diese Welt hinein.
Dazu kommt die Story, die so japanisch ist, dass sie direkt aus einem japanischen Film oder Anime stammen könnte. Tipp: Sprachausgabe auf japanisch gestellt lassen und Untertitel lesen, für die volle Nippon-Experience. Zusammen mit dem Grafikstil wirkt Ghostwire: Tokyo wie ein Indie-Game – im besten Sinne des Wortes.
Schwacher Shooter
Sobald Dämonen bekämpft werden müssen, ist dieser Eindruck leider dahin. Es ist dann einfach nur ein Shooter und kein besonders guter. Die meiste Zeit kämpft man mit Elementar-Zaubersprüchen. Diese sind nichts anderes als Pistole, Schrotflinte und Scharfschützengewehr mit einer Granatwerferfunktion. Statt Handgranaten wirft man Bannsiegel. Auch den üblichen Supermodus gibt es, wenn man genug Gegner eliminiert hat. Dieser sendet eine Schockwelle aus und verlangsamt die Zeit.
Es ist immer dasselbe: Drauf schießen, bis die Gegner genug Energie verloren haben, dass der Kern freigelegt ist und den dann rausziehen. Alternativ kann man vorher herumschleichen und ein paar Dämonen von hinten ausschalten, aber auch das kennt man schon von zig anderen Shootern und es nutzt sich schnell ab.
Dazu kommt die mittlerweile bekannte Ubisoft-Formel (Publisher von Ghostwire: Tokyo ist Bethesda). Am Anfang sind Gebiete der offenen Welt abgedeckt. Durch das Befreien von Schreinen verschwindet der Nebel und mehr Missionen und Nebenaufgaben werden verfügbar. Es ist, als hätte sich im Entwicklungsprozess jemand gedacht, dass man unbedingt einen Shooter aus dem Game machen müsse und hat dann einfach bewährte Standard-Shooter-Elemente ins Spiel geklatscht.
Nebenmissionen führen in die japanische Mythologie ein
Was Ghostwire: Tokyo rausreißt und verleitet, bis zum Schluss zu spielen und die ganze Karte aufzudecken, sind die Nebenmissionen. Sie führen in die japanische Mythologie und Folklore ein. Man lernt über Rituale, Glauben und Fabelwesen und wie sie für manche Japaner*innen heute noch eine Rolle spielen.
Einige der Missionen führen auf Baustellen, in die U-Bahn oder in die Wohnungen und Häuser der Bewohner*innen. Es gab keine einzige Nebenmission, bei der ich mir gedacht habe: „Kenn ich schon“. Ich will nicht die wirklich coolen Nebenmissionen aufzählen, um Spoiler zu vermeiden. Deshalb sei nur gesagt: Wer sich für japanische Mythologie, Urban Legends und das Paranormale begeistern kann (man muss dazu nicht daran glauben), wird viel Freude mit Ghostwire: Tokyo haben.
Künstlich in die Länge gezogen
Einen Hinweis, dass das Spiel aufgeblasen wurde, gibt es aber auch hier. Die übernatürlichen Wesen namens Yokai, die in Nebenmissionen eingeführt werden, tauchen danach einfach überall in der Stadt auf. Auch das erinnert wieder stark an die typische Ubisoft-Formel und fühlt sich an, als würde das Game künstlich in die Länge gezogen werden.
Dasselbe gilt für die Seelen, die in der Stadt verstreut sind. Das Sammeln und abgeben dient anfangs dazu, um Level-Ups zu bekommen, mit denen Upgrades für die Fähigkeiten freigeschaltet werden. Ab einem bestimmten Level und wenn man die immer gleichen Muster in den Kämpfen durchschaut hat, ist Seelensammeln eigentlich unnötig.
Zu diesem Zeitpunkt hat man aber gerade mal die Hälfte der gesamten Seelen in der Stadt gesammelt – obwohl man gefühlt seit dem Beginn des Spiels 25 Prozent der Zeit damit verbracht hat, die Seelen zu sammeln und bei Telefonzellen abzugeben. Es sind einfach nur so viele da, damit Spieler*innen, die das Game zu 100 Prozent abschließen wollen, länger was zu tun haben. Dasselbe gilt für viele Sammelgegenstände und kaufbare Outfits. Letztere sieht man ohnehin nur in den seltenen Zwischensequenzen und dem Foto-Modus, weil es ein First-Person-View-Spiel ist.
Auch das Ende der Hauptstory ist stark in die Länge gezogen. Ab einen gewissen Punkt konnte ich deshalb nicht mehr mit der Hauptfigur mitfühlen. Ich war fast schon genervt, weil es nicht schnell genug weiterging, obwohl ohnehin klar ist, was als nächstes passieren wird.
Mit allen erledigten Nebenmissionen, allen Schreinen, Hauptstory abgeschlossen und 90 Prozent der Yokai gesammelt, habe ich 19 Stunden Spielzeit gebraucht. Danach kann man das Game mit einem höheren Schwierigkeitsgrad neu beginnen oder alle Seelen und Gegenstände sammeln. Einen Multiplayermodus oder andere zusätzliche Spielmodi gibt es nicht.
Fazit
Ghostwire: Tokyo wirkt, als hätte es als cooles Indie-Style Horror-Explore-Game gestartet. Damit ist man zum Publisher gegangen und der hat dann gesagt: „Macht einen Shooter daraus, sonst verkauft es sich nicht.“
Es ist wirklich schade, denn einerseits hat man die großartige Atmosphäre und japanische Folklore und andererseits eine Ubisoft-Formel und einen Shooter, bei dem einfach nur Pistole und Schrotflinte durch Zaubersprüche ersetzt wurden. Und das Kern-Rausreißen bei den Gegnern, um Lebensenergie und Munition aufzufüllen, ist im Prinzip dasselbe wie die Glory-Kills bei Doom (Publisher von Doom ist, wie bei Ghostwire, Bethesda). Zufall ist das nicht: Shinichiro Hara, der bei Doom am Kampf- und Glory-Kill-System gearbeitet hat, wurde zum Entwicklerstudio von Ghostwire: Tokyo transferiert, um dort „Combat Director“ zu sein.
Vermutlich war es gut gemeint, aber so richtig gut geworden ist es nicht. Zum Vollpreis von 60 Euro kann ich Ghostwire: Tokyo deshalb nicht empfehlen. Sollte es in ein paar Monaten um 35 Euro oder günstiger erhältlich sein, können Japanophile mit gutem Gewissen zuschlagen.