Renaturierung: Die anderen sind auch nicht blöd
Wissenschaftlich gesehen ist die Sache klar: Europas Ökosysteme sind teilweise in einem schlechten Zustand. Zu viel Fläche wurde verbaut und versiegelt, in der Land- und Forstwirtschaft wurde oft zu wenig an die Umwelt gedacht, in vielen Regionen ist die Artenvielfalt zurückgegangen, die Zahl der Insekten ist dramatisch gesunken, die Böden erodieren.
Dass man dagegen etwas tun muss, ist kein Wohlfühlthema für Öko-Fundamentalisten, sondern eine knallharte wirtschaftliche Tatsache. Schon heute verliert die Landwirtschaft in der EU jedes Jahr rund 1,25 Milliarden Euro, weil Bodenerosion die Produktivität des Bodens verringert. Jeder Euro, der in den Schutz der Ökosysteme gesteckt wird, soll laut Schätzungen 4 bis 38 Euro bringen – weil Lebensmittelsicherheit, Gesundheit und Katastrophenschutz verbessert werden. So eine Rendite bekommt man nur selten. In der EU will man daher nun mit dem neu beschlossenen Renaturierungsgesetz Regeln schaffen, auf deren Basis dann die Mitgliedsstaaten Ökosysteme schützen und damit langfristig schwere finanzielle Schäden vermeiden sollen.
Das klingt eigentlich nach einer naheliegenden Idee, bei der kluge Leute aus unterschiedlichen politischen Lagern ganz entspannt und konstruktiv über Details der Umsetzung verhandeln könnten. Doch es kam anders: Ein heftig geführter politischer Streit entbrannte – wir bekommen ein Musterbeispiel dafür präsentiert, wie man in einer gesellschaftlichen Debatte sicher nicht miteinander umgehen soll.
Schauermärchen und Falschbehauptungen
Auf der einen Seite gab es Stimmungsmache gegen das Renaturierungsgesetz, mit haarsträubenden Unterstellungen. „Unsere Bauern sollen offensichtlich so weit enteignet werden, bis wir uns selbst nicht mehr ernähren können. Stattdessen sollen etwa genmanipuliertes Gemüse aus der ganzen Welt importiert oder ‚neuartige Lebensmittel‘ wie Mehlwürmer und Heuschrecken für die Lebensmittelproduktion herangezogen werden“, schrieb etwa der steirische FPÖ-Politiker Albert Royer.
Fast alles daran ist irreführend. Nein, das Renaturierungsgesetz führt nicht dazu, dass wir uns nicht mehr ernähren können. Im Gegenteil: Nahrungsmittelsicherheit ist ja ein ganz wesentlicher Grund für das Gesetz. Die Gentechnik-Diskussion hat damit zunächst gar nichts zu tun, und Insekten kommen in den EU-Plänen zwar vor – aber nicht, weil man sie künftig essen soll, sondern weil sie als Pflanzenbestäuber wichtig für unsere Zukunft sind.
Die konservative EVP-Fraktion im EU-Parlament sorgte mit einem befremdlichen Social-Media-Posting für Aufsehen, in dem die Frage gestellt wurde: Was bedeutet das Renaturierungsgesetz für Helsinki? Die angebliche Antwort: Man müsse 6 mittelgroße Vorstädte abreißen. Woher dieser Gedanke kommen soll, ist unklar. Niemand hat so etwas gefordert, niemand will das, niemand setzt sich für solche Ideen ein.
Die Dämonisierung der Umweltschutz-Bewegung
Als Diskussions-Zerstörungstaktik ist das aber praktisch: Man muss sich dann nicht mehr mit den Argumenten der Gegenseite auseinandersetzen. Man muss nicht darüber nachdenken, ob Vorschläge, die von Leuten mit jahrelanger Expertise entwickelt und von tausenden Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen unterstützt wurden, nicht zumindest mal ernst genommen werden sollten.
Stattdessen wird die Gegenseite dämonisiert: „Dort in Brüssel will jemand, dass die Bauern vernichtet werden, dass wir hungern oder uns von Mehlwürmern ernähren müssen! Jemand will Städte wie Helsinki zerstören!“ Man bekommt fast das Bedürfnis, Leute mit solchen Angstphantasien in den Arm zu nehmen und zu sagen: „Ruhig! Alles ist gut! Nein, niemand will dich zerstören und dir Mehlwürmer einflößen! Du musst keine Angst haben!“
Die Dämonisierung der Landwirtschafts-Vertretung
Auf der anderen Seite passiert etwas ganz Ähnliches: Interessensvertretungen der Landwirtschaft, die dem Gesetz kritisch gegenüberstehen, werden als dumme Umweltzerstörer dargestellt, die aus trotziger Sturheit jeden Wandel verhindern: „Diese blöden Landwirte arbeiten an der Vernichtung der Böden und der Insekten, sie sind einfach nicht schlau genug um zu erkennen, dass sie dadurch ihre eigene Zukunft kaputt machen!“ Solche infantilisierenden Zuschreibungen kommen dann von besserwisserischen Stadtbewohnern, die nach erfolgreichem Düngen ihres Basilikumstocks glauben, etwas von Landwirtschaft zu verstehen. Auch sie sprechen der Gegenseite jede Expertise ab, um sich mit Argumenten nicht mehr beschäftigen zu müssen.
Viel interessanter wäre natürlich die Frage: Wie kam es, dass offensichtlich ein beträchtlicher Teil der Menschen in der Landwirtschaft kein Vertrauen in solche Umweltschutz-Projekte hat? Wenn sich Bäuerinnen und Bauern Sorgen über Bürokratiezuwachs und noch höhere Abhängigkeit von Subventionen machen, sollte das nicht auch ernst genommen werden? Was ist in der Vergangenheit schiefgelaufen, wenn ein Gesetz, das eigentlich die Landwirtschaft langfristig sichern soll, von den betroffenen Personen so kritisch gesehen wird?
Eine sinnvolle Arbeitshypothese in solchen Diskussionen ist: Der Gegner ist höchstwahrscheinlich auch kein Dummkopf. Man mag unterschiedlicher Meinung sein, aber meistens hat die andere Seite zumindest einen Grund für ihre Sichtweise. Daraus kann man etwas lernen. Wenn man einfach davon ausgeht, dass der Gegner zerstörerisch, dämonisch oder dumm ist, wird man diesen Grund nicht herausfinden können. Und dann ist niemandem geholfen.