Meinung

Theorie und Arztpraxis

Ärzten sollte man vertrauen. Sie haben ein langes Studium absolviert, viel gelernt und jahrelang Erfahrung gesammelt. Wie wertvoll das ist, zeigt sich immer wieder aufs Neue: In einem Anfall hypochondrischer Verzweiflung tippt man Krankheitssymptome in Internetsuchmaschinen ein und kommt zum unzweifelhaften Ergebnis: Es handelt sich ganz eindeutig um eine absolut tödliche Krankheit! Das erzählt man am nächsten Tag der Ärztin, und die sieht die Sache zum Glück viel entspannter. Und in den allermeisten Fällen hat sie recht. Ihre Meinung ist einfach mehr wert als die Meinung eines medizinischen Laien.

Aber wie kann es dann sein, dass in der Corona-Pandemie immer wieder ausgebildete Ärzte ziemlich seltsame Thesen verbreiten? „Es wird keine zweite Welle geben! Corona ist harmloser als die Grippe! Die Infektionszahlen steigen nur, weil mehr getestet wird!“ All das war falsch, aber es wurde uns mit Überzeugung erzählt – in Fernsehdiskussionen, in Youtube-Videos, in sozialen Medien. Und zwar nicht nur von ahnungslosen Verschwörungstheoretikern, sondern eben auch von Medizinern. Das sind doch Experten! Dürfen wir uns darauf nicht verlassen?

Medizin ist nicht immer Wissenschaft

Nein, nicht ganz. So ehrenwert und vertrauenswürdig Ärzte auch sind: Es gibt eine Instanz, die viel vertrauenswürdiger ist: Die Wissenschaft. Und Wissenschaft ist nicht einfach die Meinung einer einzelnen Person mit Doktortitel, sondern ein dicht geknüpftes Netz aus Fakten, die auf logische Weise zueinanderpassen.

Viele Leute verwechseln medizinische Wissenschaft mit dem, was ein Hausarzt macht. Beides ist wichtig, aber es handelt sich um 2 ganz unterschiedliche Dinge. In der medizinischen Forschung geht es darum, neue wissenschaftliche Theorien zu entwickeln. Man führt Laborexperimente durch, man sammelt Patientendaten, man wertet die Ergebnisse mit statistischen Methoden aus. Das hat viel mit Mathematik und Naturwissenschaft zu tun.

In der Arztpraxis hingegen geht es darum, diese wissenschaftlichen Erkenntnisse dann konkret anzuwenden. Man führt Beratungsgespräche durch, man hört geduldig zu, man verschreibt wohlerprobte Medikamente. Das hat viel mit Erfahrung, Einfühlungsvermögen und Kommunikationskunst zu tun.

Zwischen diesen unterschiedlichen Kategorien sollte man klar unterscheiden. Wenn eine klinische Studie mit zehntausenden Personen durchgeführt, statistisch ausgewertet und in wissenschaftlichen Fachjournalen publiziert wurde, ist das zuverlässiger als das Bauchgefühl eines Arztes. Wenn auf der ganzen Welt Fachleute an einer bestimmten Frage forschen und sich am Ende einig sind, dann ist das glaubwürdiger als die Meinung jeder Einzelperson. Andererseits: Wenn ich einen Gipsverband brauche, soll mir den bitte ein alltagserfahrener Praktiker anlegen, nicht die hochwissenschaftlich forschende Biomechanik-Spezialistin, die Computersimulationen von Knochenbrüchen entwickelt.

Arbeitsteilung ist wichtig

Ärzte, die Patienten betreuen, sind normalerweise keine Wissenschaftler, sondern Praktiker. Andere Ärzte, die täglich in der Forschung arbeiten, haben viel mehr Erfahrung mit wissenschaftlichen Methoden, dafür viel weniger Erfahrung im Umgang mit Patienten. Das bedeutet nicht, dass eine der beiden Gruppen grundsätzlich besser oder klüger wäre. Beides brauchen wir – aber wenn sich der praktische Arzt gegen die Erkenntnisse seiner wissenschaftlich forschenden Kollegen stellt und eigene Theorien über Corona verbreitet, sollte man etwas skeptisch sein.

Das ist keine Besonderheit der Medizin: Ähnliche Arten von Arbeitsteilung finden sich fast überall. Es gibt, Naturwissenschaftler, die neue Theorien aufstellen, und es gibt Ingenieure, die diese Theorien anwenden. Eine Kosmologin entwickelt neue Ideen über unsere Galaxie und das Weltall. Wenn es ganz konkret darum geht, eine Marsrakete zu konstruieren, ist sie aber die Falsche – das kann die Maschinenbauingenieurin besser. Aber die Ingenieurin sollte nicht glauben, nur aufgrund ihrer Marsraketenerfahrung eine bessere Theorie über die Physik des Kosmos aus dem Ärmel schütteln zu können, als die Kosmologin, die sich mit dem Thema ihr Leben lang beschäftigt hat. Wenn wir uns das Weltall erklären lassen wollen, sollten wir uns auf den Konsens innerhalb der Kosmologie verlassen. Und bei COVID-19 auf den Konsens in Virologie und Epidemiologie.

Mehr Wissenschaft im Medizinstudium

Vieles, was man im Arztberuf braucht, ist nicht wissenschaftlich vermittelbar: Einfühlungsvermögen, Kommunikationstalent – und auch ein gewisses Bauchgefühl. Aber vielleicht wäre es sinnvoll, in der medizinischen Ausbildung etwas mehr Wert auf das Verständnis wissenschaftlicher Methoden zu legen. Nicht, weil jeder Arzt wissenschaftliche Forschung betreiben sollte, sondern weil das hilft, die Zuverlässigkeit von Thesen besser einzuschätzen – auch die Zuverlässigkeit des eigenen Bauchgefühls. Gerade Ärzte sollten in der Lage sein zu sagen: „In diesem Punkt habe ich selbst wenig Erfahrung – aber die medizinische Fachliteratur kommt zu einem klaren Ergebnis. Und darauf können wir uns gemeinsam verlassen.“

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Florian Aigner

Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen. Über Wissenschaft, Blödsinn und den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen, schreibt er regelmäßig auf futurezone.at und in der Tageszeitung KURIER.

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