"WIENER WUTRAUM"
© APA/GEORG HOCHMUTH / GEORG HOCHMUTH

Meinung

Ein Virus im Porzellanladen

„Ja, ich muss jede Menge Scherben wegräumen, aber Kapazitätsgrenzen der Mülleimer sind noch nicht überschritten. Das ist akzeptabel.“

Angenommen, ich besitze einen Geschirrladen voller Glas und Porzellan. Dummerweise ist eine Ziegenherde eingedrungen. Tag für Tag zerstören tobende Ziegenböcke mein Inventar. Was werde ich tun?

Ich kann mich mit der Situation arrangieren. „Ja, ich muss jede Menge Scherben wegräumen“, erkläre ich, „aber Kapazitätsgrenzen der Mülleimer sind noch nicht überschritten. Das ist akzeptabel.“ Man wird mich für verrückt erklären. Die Mülleimerkapazität ist hier kein sinnvolles Kriterium. Kein Zweifel: die Ziegen müssen raus. Das ist vielleicht schwierig, aber danach hat man Ruhe.

Halb-Lockdown: Die Nachteile beider Seiten

Genau diesen Fehler begehen wir im Umgang mit COVID-19: Eine eigentlich unerträgliche Situation wird unnötig hinausgezögert, zumindest so lange die Kapazitätsgrenzen der Intensivstationen noch nicht überall hoffnungslos überschritten sind. Seit Monaten befinden wir uns ein einem zermürbenden Halb-Lockdown. Die Wirtschaft leidet, unsere Psyche nimmt Schaden, Kultur und Tourismus stehen am Abgrund. Die Idee vom konsequenten Contact-Tracing haben wir irgendwann einfach stillschweigend aufgegeben. Jeden Tag kommen neue Krankheitsfälle hinzu, mit schweren Verläufen, mit Langzeitschäden, mit Todesfolgen.

Das müsste nicht so sein. Das ist alles nur passiert, weil wir es so entschieden haben. Mit einem kurzen, harten, klug geplanten Lockdown hätte man die Infektionszahlen natürlich drastisch senken können. Portugal hat es eindrucksvoll vorgezeigt. Ja sogar wir selbst haben es ziemlich gut vorgezeigt, beim ersten Lockdown im März 2020. Noch entschiedener ging man in Neuseeland vor: Dort ist COVID-19 unter Kontrolle. Dort gibt es Rockkonzerte im Stadion. Dort werden Partys gefeiert.

„Neuseeland hat es leichter“, sagen manche. „Das ist eine Insel!“ Das mag sein, aber erstens könnte man auch anderswo Grenzen kontrollieren, und zweitens lag unsere Inzidenz nie so deutlich unter jener der Nachbarländer, dass über die Grenze transportiere Corona-Fälle der wesentliche Pandemie-Treiber waren. Daher ist das eine schwache Ausrede. „Und andere Staaten mit gutem Corona-Management sind Diktaturen“, heißt es dann. „Da kann man Maßnahmen natürlich leicht durchsetzen!“ Wirklich? Was ist das für eine demokratiefeindliche Position, Demokratie als prinzipiell unterlegen darzustellen? Niemand hindert uns in einer Demokratie, uns ganz demokratisch auf konsequentes Handeln zu einigen. Das ist bloß eine Frage von Zusammenhalt, Gesetzestreue und der Bereitschaft, aufeinander Rücksicht zu nehmen.

Bei uns heißt es, ein harter Lockdown sei der Psyche und der Wirtschaft nicht zuzumuten. Ist es nicht eigentlich anders herum? Die Pandemie ist der Psyche und der Wirtschaft nicht zuzumuten! Der zermürbend lange Halb-Lockdown ist der Psyche und der Wirtschaft nicht zuzumuten! Tausende Krankheits- und Todesfälle sind der Psyche und der Wirtschaft nicht zuzumuten!

Ein konsequenter Lockdown würde natürlich kurz wehtun, ähnlich wie ein Nadelstich beim Impfen. Aber was wir derzeit machen ist wie der Versuch, sich mit dem Löffel ein Loch in den Arm zu bohren. Nützlichen Effekt hat es keinen, aber nach Stunden tut es so weh, dass wir sagen: „Der Arm trägt das nicht länger mit!“

Und dann wird bei Corona-Demonstrationen sogar ein sofortiges Ende aller Maßnahmen gefordert. Was genau soll eigentlich danach geschehen? Die Intensivstationen sind bereits voll. Sollen wir die Kranken dann einfach zum Sterben nach Hause schicken? Vergeben wir Plätze am Beatmungsgerät nach Alter? Nach Einkommen? Oder stimmen per Online-Voting ab? Darüber sprechen die Corona-Querdenker interessanterweise nie.

Wer richtig schlecht war, hat wenigstens die Chance zu lernen

Vielleicht müssen wir unser gesellschaftliches Selbstverständnis überdenken: Gerne halten wir uns für rational und wissenschaftlich. Wir gehen davon aus, dass man sich uns auf anderen Kontinenten zum Vorbild nimmt. Das Gegenteil ist jetzt nötig. Wir hatten dasselbe Problem wie andere und sind deutlich schlechter damit umgegangen. Nicht nur wegen falscher politischer Entscheidungen, sondern weil wir als Gesellschaft nicht gut genug darin sind, Probleme gemeinsam rational zu lösen.

Anstatt Rücksicht auf andere zu nehmen, suchen wir nach Tricks, mit denen man lästige Regeln umgehen kann. Anstatt rasch zu handeln, richten wir zusätzliche Verhandlungsgremien ein und warten einfach erst mal ab. Anstatt auf wissenschaftliche Fakten zu vertrauen, glauben wir denen, die uns sagen, was wir hören wollen. Das ist enttäuschend.

Zum Glück kann uns niemand daran hindern, klüger zu werden. Die nächste Krise kommt bestimmt. Sorgen wir dafür, dass dann weniger Porzellan zerschlagen wird!

Hat dir der Artikel gefallen? Jetzt teilen!

Florian Aigner

Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen. Über Wissenschaft, Blödsinn und den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen, schreibt er regelmäßig auf futurezone.at und in der Tageszeitung KURIER.

mehr lesen
Florian Aigner

Kommentare