Keine Angst vor Morgellonen!
Als ob wir nicht schon genug Sorgen hätten! Nun fühlen sich viele Leute auch noch verunsichert von Berichten über geheimnisvolle Tierchen, die angeblich in FFP2-Masken wohnen sollen, oder auf Corona-Teststäbchen. Mit der Lupe oder unter einem Mikroskop werden dort fadenartige Gebilde sichtbar, die sich manchmal sogar zappelnd bewegen wie ein kleiner Wurm. Das kann doch keine Einbildung sein!
Rasch wird das dann in Internet zu einer gewaltigen Bedrohung aufgeblasen: Das sind Morgellonen, heißt es dann. Kleine Parasiten, die sich angeblich in unserer Haut einnisten.
Morgellonen gibt es nicht
Diese Morgellonen-Theorie ist nicht neu: Immer wieder gibt es Leute, die aus Angst vor winzigen Parasiten an ihrer Haut herumkratzen. Und wenn man das lange genug macht, bilden sich tatsächlich kleine Rubbelfädchen aus Haut- und Kleidungsrückständen, die man dann als Beweis für die Morgellonen-These vorzeigen kann. Während einer Pandemie, in einer Zeit, in der alle psychisch erschöpft sind und sich Verschwörungstheorien ohnehin schon schneller vermehren als Stechmücken in den sommerlichen Donau-Auen, wird daraus leicht eine Massenpanik: Man sollte Coronatests und FFP2-Masken meiden, heißt es plötzlich, weil sie mit gefährlichen Kleinlebewesen verseucht sind. Ist das vielleicht sogar Absicht? Will uns jemand bewusst Morgellonen in den Körper einschleusen?
Nein, natürlich nicht. Morgellonen gibt es nicht. Es handelt es sich um Baumwoll- oder Kunststofffasern, oder auch um Abrieb von der Haut. Aber es wäre falsch, Morgellonen-Forscher auszulachen, sie für dumm oder für verrückt zu erklären. Auch der Vorwurf „du bildest dir das nur ein“ ist nicht hilfreich. Ein Jucken auf der Haut ist etwas Reales, egal woher es kommt. Und ein seltsames Fädchen, das sich unter der Lupe seltsam benimmt, ist nun mal tatsächlich da.
An Morgellonen glauben – verständlich aber falsch
Wenn man sich diese winzigen fadenartigen Strukturen unter dem Mikroskop genauer ansieht, dann kann man leicht verstehen, warum manche Leute sie für etwas Lebendiges halten: Wenn ein dickes Seil am Boden liegt und plötzlich zu zucken beginnt, dann ist es wohl kein Seil, sondern eine Schlange. Was sich bewegt, ist lebendig – das ist eine sinnvolle Regel. Doch auf mikroskopischer Skala gilt diese Regel nicht mehr. Wenn sich ein winziges Fädchen plötzlich zu bewegen beginnt, kann das viele Gründe haben – ein sanfter Luftzug, ein Strömungsphänomen oder eine elektrostatische Ladung. Diese Effekte können eine winzige Faser auf ziemlich verrückte Weise tanzen lassen. Aber die meisten von uns haben mit solchen Phänomenen auf mikroskopischer Skala keine Erfahrung, und daher fehlt uns auch jedes Gefühl dafür, welches Verhalten bei kleinen Fädchen normal ist und welches nicht.
Man sollte Menschen, die an Morgellonen glauben, ihre Erfahrungen daher nicht absprechen. Sie sind ja tatsächlich auf etwas Erstaunliches gestoßen. Der entscheidende Punkt ist, wie wir mit Erstaunlichkeiten umgehen. Wir können sie als Bedrohung sehen, oder wir können sie erklären. Das Erste ist der Zugang der Esoterik, das Zweite der Zugang der Wissenschaft.
Gäbe es die Morgellonen wirklich, wären sie in erster Linie mal spannend: Wir könnten mit Hochleistungsmikroskopen Bilder von ihnen machen. Wir könnten sie Zelle für Zelle studieren und ihre DNA sequenzieren. Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich: Da ist nichts, was man erklären muss. Da sieht bloß eine elektrisch geladene Kunstfaser etwas seltsam aus. Oder ein paar ganz gewöhnliche Hautzellen, die zusammengequetscht wurden, ergeben unter dem Mikroskop eine merkwürdige Struktur.
Und das ist vielleicht das Schönste an der Wissenschaft: Sie hilft uns nicht nur, neue Dinge zu verstehen, sie kann uns auch quälende Ängste nehmen. Denn was man verstanden hat, das muss man nicht mehr fürchten.