Meinung

Die Selbstüberschätzung der Naturwissenschaft

In Italien gibt es Pizza, in Japan bekommt man Sushi. Was ist besser? Das ist eine dumme Frage. Beides hat seine Berechtigung, aus persönlichen Vorlieben kann man kein klares Werturteil ableiten. So ähnlich ist es in der Wissenschaft. Ich persönlich bin Physiker und finde Naturwissenschaften besonders spannend. Aber auch Geistes- und Sozialwissenschaften liefern ständig wichtige Erkenntnisse, die unseren Horizont erweitern und unser Leben verbessern.

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Ich beobachte allerdings immer wieder, dass manche Leute aus den Naturwissenschaften eine Grenze zu ziehen versuchen, zwischen „wertvollen, harten Wissenschaften“ und „minderwertigen, weichen Wissenschaften“. Auf der einen Seite werden Atomphysik und Molekularbiologie eingeordnet, auf der anderen Seite Soziologie oder Pädagogik. Und wehe jemand sagt „Gender Studies“, dann ist die Diskussion überhaupt vorbei.

Mathematik-Obsession

Das ist natürlich eine kindische und irrationale Sichtweise. Es erinnert an 5-Jährige, die streiten, ob Spider-Man nun stärker ist als Optimus Prime. Kürzlich hörte ich einen Physiker, der versuchte, in einer solchen Diskussion die Psychologie zu verteidigen. „Das ist durchaus eine ordentliche Wissenschaft“, meinte er, „denn da kommt viel Statistik vor.“

Das ist ein merkwürdiges Argument. Warum soll das Maß an Statistik (oder Mathematik im Allgemeinen) ein Indikator für den Wert einer Wissenschaftsdisziplin sein? Aber vielleicht ist das ein Indiz für die Ursache naturwissenschaftlicher Selbstüberschätzung: In einem sozialwissenschaftlichen Studium kommt meist eher wenig Mathematik vor, oft steht aber eine Statistik-Vorlesung auf dem Lehrplan, in der es darum geht, wie man empirische Daten ordentlich auswertet. Besonders beliebt sind diese Vorlesungen selten, oft gelten sie als ärgerliche Hürden im Studium.

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Leute aus der Naturwissenschaft hingegen sind den Umgang mit Mathematik gewohnt, ihnen erscheinen diese gefürchteten Statistik-Vorlesungen vielleicht als relativ einfach. Und daraus wird dann geschlossen: „Wenn das, was in diesem Studium als schwierig gilt, für mich einfach ist, dann bin ich diesen Leuten überlegen. Somit bin ich in Sozialwissenschaften besser als die gelernten Sozialwissenschaftler.“

Das ist natürlich ein logischer Fehlschluss. Wenn man gute Sozialwissenschaft produzieren will, kommt es nicht darauf an, möglichst regelkonforme Statistik anzuwenden (auch wenn das natürlich wichtig ist). Es geht zunächst darum, ein Problem, das auf hochkomplizierte Weise mit anderen Fragestellungen zusammenhängt, präzise zu definieren. Es geht darum, überhaupt mal die passenden Methoden herauszufinden, um das Problem zu analysieren. Es geht darum, die bestehende Literatur zu kennen, die eigene Arbeit in das bestehende Theoriegebäude einzufügen und versteckte Zusammenhänge zu erkennen.

Naturwissenschaftliche Diskussions-Verkürzung

Wenn man stattdessen einfach eine mathematische Formel auf den Tisch knallt, wird man der Komplexität der Welt nicht gerecht. Aber es fühlt sich unglaublich seriös an – Mathematik lügt schließlich nicht.

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Oder man kramt eine simple naturwissenschaftliche Tatsache hervor, die mit einer sozialwissenschaftlichen Frage zu tun hat, und behauptet dann einfach, diese Frage damit beantwortet zu haben. Es geht um Transsexualität im Sport? Man spricht einfach über Chromosomen und hält die Sache für erledigt. Es geht um die soziale Akzeptanz der Kernenergie? Man spricht über die überlegene Energiedichte von Uran und erklärt sich zum Sieger. Es geht um den Wandel von Geschlechterrollen? Man erklärt Geschlechterrollen mit wackeligen Evolutions-Argumenten für natürlich und angeboren, und muss sich keine weiteren Gedanken mehr machen.

Selbstverständlich diskutieren nicht alle Leute aus der Naturwissenschaft auf solch eindimensionale Weise. Aber es kommt vor. Die Wahrheit ist: Wenn wir in dieser komplizierten Welt zurechtkommen wollen, in der alles mit allem irgendwie zusammenhängt, dann brauchen wir kluge Ideen aus allen Wissensbereichen. Verschiedene Forschungsdisziplinen gegeneinander auszuspielen, ist die dümmste Streiterei der Welt.

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Florian Aigner

Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen. Über Wissenschaft, Blödsinn und den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen, schreibt er regelmäßig auf futurezone.at und in der Tageszeitung KURIER.

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