Das Experten-Paradoxon
Es nervt, wenn wieder mal weite Teile der Bevölkerung ganz selbstbewusst der Meinung sind, die Lösung für ein kompliziertes, vielschichtiges Problem gefunden zu haben. Nach dem verlorenen Fußball-Länderspiel weiß das halbe Land, welche Aufstellung die bessere gewesen wäre. Während der Pandemie weiß das halbe Land, wie man das Gesundheitssystem retten muss. Und wenn irgendwo kriegerische Gewalt ausbricht, kennt das halbe Land plötzlich die simple Lösung. Diese Selbstüberschätzung ist ein Problem.
Es nervt aber auch, wenn sich weite Teile der Bevölkerung bei jedem komplizierten, vielschichtigen Problem darüber aufregen, dass sich andere Leute darüber äußern. Immer wieder bekommen wir dann denselben lauwarmen Pseudo-Scherz zu hören: „Aha! Früher gab es im Land Millionen Fußballtrainer, während Corona haben sie alle auf Virologie umgeschult, und jetzt sind das plötzlich alles Fachleute für den Nahost-Konflikt! Wie peinlich! Können die nicht einfach mal leise sein?“ Diese Forderung ist ebenfalls ein Problem.
Alle dürfen sich über alles äußern
Beides kann gleichzeitig wahr sein: Es ist völlig in Ordnung, eine Meinung zu einem komplizierten Thema zu äußern, auch wenn man sich damit weniger intensiv beschäftigt hat als manche andere Leute. Unabhängig davon ist aber die Meinung jener Leute, die sich damit besser auskennen, wertvoller und mit einer höheren Wahrscheinlichkeit richtig.
„Sei still, du bist da nicht vom Fach!“ ist kein Argument und schon gar keine Widerlegung. Eine Demokratie lebt davon, dass wir alle uns eine Meinung bilden, auch über ziemlich komplizierte Dinge. Und demokratische Meinungsbildung ist nur dann möglich, wenn wir diese Meinung auch äußern, gemeinsam diskutieren und dadurch neu überdenken. Jeder darf sich über alles äußern. Sowohl privat als auch öffentlich. Auch in Form halbausgegorener Gedanken.
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Das bedeutet aber nicht, dass jede Meinung denselben Wert hat und denselben Respekt verdient. Natürlich hat die fundierte Meinung einer Person, die seit Jahren an diesem Thema forscht, mehr Gewicht als das Bauchgefühl von Onkel Rudi, der darüber ein YouTube-Video gesehen hat und seine Erkenntnisse nun in der Familien-Whatsapp-Gruppe teilt. Möglicherweise nervt Onkel Rudi. Das darf man ihm dann ruhig sagen. Aber wie alle anderen Leute hat auch er das Recht, sich zu äußern.
Es ist ok, fremde Meinungen zu übernehmen
Es gibt ganze Berufszweige, in denen es genau darum geht: Journalist*innen können unmöglich Fachleute für alle Themen sein, über die sie berichten. Müssen sie auch nicht. Sie können Fachleute interviewen, sauber recherchieren und das Ergebnis erklären. Für Leute in politischen Ämtern gilt dasselbe: Eine Klimaministerin muss nicht unbedingt Klimaforscherin sein – aber sie ist gut beraten, wenn sie auf das hört, was die Klimaforschung sagt.
Im Gegensatz zur Schularbeit, bei der man die korrekte Lösung nicht von anderen Kindern abschreiben durfte, ist es in der demokratischen Meinungsbildung völlig in Ordnung, die richtigen Antworten von anderen Leuten zu übernehmen, die sich besser auskennen. Wenn jemand, der überhaupt nicht vom Fach ist, den international anerkannten Stand der Forschung recherchiert und wiedergibt, dann ist das normalerweise vertrauenswürdiger als die Meinung eines Fachexperten, der zwar selbst daran forscht, in seinem eigenen Fachgebiet allerdings als exotischer Außenseiter gilt.
Wir sollten also niemanden dafür kritisieren, eine Meinung zu verbreiten, ohne ausgewiesene Expertise dazu vorweisen zu können. Problematisch ist es nur, die eigene, wenig fundierte Meinung für verlässlicher zu halten als das, was unter Fachexpertinnen und Fachexperten als anerkannte Tatsache gilt. Wenn man das versucht, sollte man schon richtig außergewöhnlich gute Argumente haben.
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