Ziellos glücklich
Menschen sind seltsam. Wir können tun was wir wollen. Aber wenn uns niemand sagt, was wir wollen sollen, dann fühlen wir uns überfordert. Wir brauchen immer ein Ziel, an das wir uns heranarbeiten können.
Wenn uns etwas nicht ausreichend nützlich erscheint, dann erfinden wir ein Ziel, dem es angeblich dienen soll. Wenn ich mittags im Büro einnicke, dann war es ein Powernap, der den Zweck hat, meine Produktivität zu steigern und neugelerntes Wissen zu festigen. Wäre nicht das Beenden von Müdigkeit schon Ziel genug gewesen?
Es gibt Studien, die den Nutzen von Urlaubstagen messen, weil man danach im Beruf wieder leistungsfähiger ist. Ach wirklich? Das ist der Grund? Ich persönlich verreise, weil ich fremde Länder kennenlernen will, nicht weil ich dadurch produktiver und effizienter werde. Muss immer alles so schrecklich nützlich sein?
Wir gehen wandern, weil es gut für den Blutdruck ist. Wir kaufen Essen, weil es wertvolle Omega-3-Fettsäuren enthält. Wir verbieten das Rauchen, weil Lungenkrankheiten volkswirtschaftlich schädlich sind, anstatt es einfach gut zu finden, dass Lokale weniger stinken und die Menschen weniger sterben. Überall erfinden wir übergeordnete Ziele dazu.
Wozu Wissenschaft?
Und auch die Wissenschaft muss sich dieser Suche nach großen Zielen unterwerfen. Wer Anträge für Forschungsgeld stellt, muss strenge Formulare mit möglichst wichtig klingenden Wissenschaftswörtern ausfüllen und erklären, warum die Forschung höchst nützlich für die Gesellschaft ist. Wissenschaft steht unter Rechtfertigungsdruck: Welche Krankheiten kann man damit heilen? Welche Geräte kann man damit bauen? Welche Startup-Unternehmen gehen daraus hervor?
Natürlich ist es großartig, wenn Wissenschaft nützliche Auswirkungen hat. Aber die größten, bahnbrechendsten Ideen wurden nicht erdacht, weil jemand reich werden wollte, Maschinen verkaufen wollte oder das Wirtschaftswachstum ankurbeln wollte.
Hätte man zwanzig Jahre vor der Erfindung des Automobils Expertenkommissionen eingesetzt, um die Ziele der Mobilitätsforschung festzulegen, dann hätten sie wohl gefordert, bessere Kutschen zu bauen, schnellere Pferde zu züchten, und den Pferdemist effizienter von der Straße zu räumen. Niemand hätte zum Ziel erklärt, eine pferdelose Transportmaschine zu entwickeln. Passiert ist es aber trotzdem. Weil irgendjemand Spaß daran hatte, neugierig zu sein. Ganz ohne großes Ziel.
Es wäre wunderbar, Menschen zum Mars zu transportieren – nicht wegen irgendwelcher Umwegrentabilitäten, sondern weil es das größte Abenteuer der Technologiegeschichte wäre. Es wäre großartig, das Geheimnis der dunklen Materie zu lüften – nicht weil wir damit Maschinen bauen könnten, sondern weil wir dann das Universum besser verstehen würden. Manche Dinge sind ganz von alleine wundervoll, sie sind selbst das Ziel, ganz ohne übergeordneten Nutzen.
Einfach weil es schön ist!
Es stimmt natürlich, dass wir nach dem Urlaub oft tatsächlich entspannter und produktiver arbeiten können, auch wenn das eigentlich nicht der Grund für den Urlaub war. Es stimmt, dass Sport gut für den Kreislauf ist, auch wenn wir ihn aus bloßem Spaß an der Bewegung machen. Und es stimmt auch, dass Wissenschaft unser Leben verbessert und die Wirtschaft ankurbelt, auch wenn sie oft gar nicht das Ziel hat, praktische Ergebnisse hervorzubringen. Aber oft erreicht man diese nützlichen Ziele am besten, indem man sie nicht so furchtbar ernst nimmt.
Vielleicht ist Weihnachten eine gute Zeit, um über den Wert der unnützen Ziellosigkeit nachzudenken. Entspannen wir uns ein bisschen. Nicht weil uns jemand erklärt hat, dass das die freien Radikale in der Haut reduziert, sondern weil es sich einfach gut anfühlt. Seien wir nett zu Tante Irma. Nicht damit sie uns dann später mal das Auto vererbt, sondern weil es schön ist, nett zu sein. Und essen wir Weihnachtskekse. Nicht die nützlichen, mit Vitaminen, Ballaststoffen und Zuckerersatz. Sondern die, die einfach nur gut schmecken.
Und auch eine Wissenschaftskolumne muss nicht unbedingt ein großes Ziel haben. Sollte sie zur Förderung des wissenschaftlich-rationalen Denkens beitragen, ist das großartig. Aber es ist auch schon erfreulich genug, dass sie gelesen wird – und das mittlerweile seit fünf Jahren. Besten Dank dafür!
Zur Person
Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen.