Tunesische Bloggerin: "Die Leute waren wütend"
In ihrem Blog A Tunesian Girl berichtet die 28-jährige Tunesierin Lina Ben Mhenni seit Jahren über die Menschenrechtssituation in Tunesien und wurde auch eine der bekanntesten Protagonistinnen der tunesischen Revolution, die im Dezember 2010 begann und schließlich zum Sturz des Diktators Ben Ali führte. Am Sonntag war Ben Mhenni beim Symposium "Public Square Squared" bei der Linzer Ars Electronica zu Gast, bei dem Blogger, Bürgerrechtler und Experten die Rolle sozialer Medien bei den Aufständen im arabischen Raum diskutierten und das demokratiepolitische Potential von Blogs, Facebook, Twitter & Co. erörterten.
Die futurezone hat mit der tunesischen Cyberaktivistin über soziale Medien während und nach der Revolution in Tunesien, Internet-Zensur und den schwierigen Demokratisierungsprozess in dem nordafrikanischen Land gesprochen.
futurezone: Über die Nutzung sozialer Medien bei den Aufständen im arabischen Raum wurde viel geschrieben. Wie wurden sie bei der Revolution in Tunesien tatsächlich genutzt?
Ben Mhenni: Sie wurden dazu genutzt, um Informationen über die Lage im Land zu verbreiten und Leute zu mobilisieren. Die traditionellen Medien - Zeitungen, Fernsehen und Radio - waren unter der Kontrolle der Regierung. Soziale Medien haben ihre Rolle übernommen. Sie haben eine wichtige Rolle gespielt, sie haben die Revolution aber sicher nicht ausgelöst. Die Aufstände haben auf der Straße begonnen. Die Leute hatten die Situation in Tunesien satt. Sie waren wütend und sind auf die Straße gegangen. Deshalb können die Tunesier auch nichts mit Bezeichnungen wie Facebook-, Twitter- oder Jasmin-Revolution anfangen. Das Wort Jasmin ruft Vorstellungen von einem süßen Duft hervor. Die Revolution in Tunesien war blutig. Viele Leute haben während der Aufstände ihr Leben verloren.
Welche Rolle haben internationale Medien, wie etwa Al Jazeera gespielt?
Al Jazeera hatte einen großen Einfluss. Medien in Europa und den USA haben sich in den ersten Tage der Proteste kaum dafür interessiert. Sie sind erst später aufgesprungen und haben auch sehr viele Informationen aus sozialen Medien übernommen. Das war auch ein Kompliment für unsere Arbeit.
Welche Online-Dienste kamen zum Einsatz?
In Tunesien spielte Facebook eine große Rolle, ebenso wie Blogs. Als die Aufstände begannen, nutzten hingegen kaum 2000 Leute Twitter. Im Vergleich dazu hatte Facebook in Tunesien zwei Millionen Nutzer. Soziale Medien haben dazu beigetragen, dass die Leute Dinge sehen konnten, die ihnen davor nicht zugänglich waren.
Welchen Einfluss hatte die Veröffentlichung von US-Depeschen über Tunesien von Wikileaks.
Ich habe gehört, dass es auch Leute gibt, die von einer Wikileaks-Revolution sprechen. Die Mehrheit der Tunesier wusste aber nicht einmal was Wikileaks ist, als die Aufstände begannen. Die Informationen, die in den veröffentlichten US-Depeschen zu lesen waren, waren vielen Leuten bereits bekannt. Sie waren allenfalls eine Bestätigung.
Anfang Jänner griff das Kollektiv von Anonymous die Seiten der tunesischen Regierung an. Wie wurden dies
Wir waren begeistert und haben uns über diese Angriffe gefreut. Die Anonymous-Aktion hat den Machthabern gezeigt, dass es Leute gibt, die ihnen Schaden zufügen können und dass sie nicht die einzige Macht im Land sind. Es war eine Bedrohung für die Regierung. Am Tag darauf drangen tunesische Cyberpolizisten allerdings in zahlreiche Facebook-Profile und Blogs von tunesischen Regimegegner ein und löschten sie. Davon war auch ich betroffen.
Wann haben Sie begonnen soziale Medien zu nutzen?
Ich startete meinen Blog 2007. Damals schrieb ich über meinen Alltag, über Musik und Filme. Es war wie ein Tagebuch. Später begann ich, mich mit Menschenrechten auseinanderzusetzen.
Wie wurden sie zur Cyberaktivistin?
Ich wurde zensuriert. 2008 bildete sich im Süden Tunesiens eine soziale Bewegung, die sich für Redefreiheit und Menschenrechte einsetzte. In Blogs wurde viel darüber berichtet. Also begann auch ich mich damit auseinanderzusetzen und beteiligte mich an einem Gemeinschaftsblog. So machte ich die ersten Erfahrungen mit der staatlichen Internet-Zensur und setzte mich mehr und mehr mit Fragen der Redefreiheit auseinander. Die Cyberpolizei begann 2008 meinen Block und meine Facebook-Seiten zu blockieren. Ich wurde auch von der Polizei beschattet und auf offener Straße drangsaliert und kontrolliert. Als ich 2010 an der Organisation einer Demonstration gegen Zensur beteiligt war, durchsuchte die Polizei das Haus meiner Eltern und nahm meinen Computer und Festplatten mit.
Sie haben in ihrem Blog ihren richtigen Namen benutzt, warum?
Ich habe mich dazu entschlossen, unter meinem richtigen Namen zu schreiben und habe auch Fotos von mir auf meinem Blog veröffentlicht. Ich dachte, dass ich Leute nicht dazu auffordern könnte, auf die Strasse zu gehen, wenn ich mich selbst verstecke und meine Identität verschleiere. Eine solche Entscheidung hängt aber auch mit der jeweiligen Situation zusammen. Der Großteil der Cyberaktivisten benutzt Anonyme. Es gibt viele Leute, die ihre Identität verschleiern müssen. Wenn Sie etwa in Syrien unter ihrem richtigen Namen zu Protesten gegen die Regierung aufrufen, können Sie sicher sein, dass Sie umgebracht werden.
Wie ist die Situation in Tunesien heute?
In Tunesien werden nun die Wahlen und eine neue Verfassung vorbereitet. In den vergangenen Tagen kam es allerdings wieder zu Ausschreitungen, bei denen auch Menschen getötet wurden. Es gibt in Tunesien Kräfte, die die Wahlen verhindern wollen.
Welche Rolle spielen soziale Medien in diesem Demokratisierungsprozess?
Viele politische Parteien nutzen soziale Medien für ihre Kampagnen. Auch Cyberaktivisten nutzen weiterhin Blogs, Facebook und Twitter, um über Vorgänge in Tunesien zu informieren. Soziale Medien sind weiterhin sehr wichtig. Die traditionellen Medien in Tunesien haben sich nicht geändert. Sie bringen Falschmeldungen im Umlauf und helfen dabei, Dinge zu verschleiern. Soziale Medien werden aber auch von konterrevolutionären Kräften genutzt. Sie haben die Macht dieser Kanäle erkannt und versuchen nun Gerüchte zu verbreiten und Chaos zu schaffen. Wir müssen sehr vorsichtig sein. Es ist schwierig demokratische Verhältnisse zu schaffen. Das alte System ist nach wie vor vorhanden. Mitglieder der Partei des ehemaligen Präsidenten versuchen erneut an die Macht zu kommen.
Wie steht es um die Internet-Zensur in Tunesien?
Am 13. Jänner, einen Tag bevor Ben Ali aus dem Amt gejagt wurde, wurde die Zensur des Internet gestoppt. Ben Ali wollte damit Sympathien sammeln. Es hat ihm aber letztlich nichts genützt. Heute sehen wir eine neue Art der Zensur. Einge Facebook-Seiten und -gruppen werden auf Anordnung des Militärgerichts blockiert. Es wird behauptet, sie rufen zu Hass und Gewalt auf. Auch pornographische Inhalte werden blockiert. Ich halte es für problematisch, wenn aus welchen Gründen auch immer Inhalte gesperrt werden. So werden persönliche Freiheiten beschnitten. Wir sind erwachsene Leute und können selbst entscheiden, welche Seiten wir im Netz aufrufen wollen.
Lina Ben Mhenni berichtete in ihrem Blog A Tunesian Girl über die Aufstände in Tunesien. Ihre Erfahrungen hat sie auch in dem Buch "Vernetzt euch" festgehalten. Die 28-jährige Tunesierin ist Dozentin für Linguistik an der Universität Tunis.