Netzpolitik

“Wir brauchen einen Ausstieg aus der Totalüberwachung”

Von Dienstag bis Donnerstag geht diese Woche in Berlin zum neunten Mal die Internetkonferenz re:publica über die Bühne. Zum Auftakt versuchen die Organisatoren zwar gute Stimmung unter den Besuchern zu verbreiten, ziehen aber gleichzeitig auch ein ernüchterndes Resümee. “Es ist ein bisschen wie ‘Und täglich grüßt das Murmeltier’. In Wahrheit hat sich seit der Diskussion im vergangenen Jahr nicht viel geändert”, sagt Markus Beckedahl von Netzpolitik.org und einer der Mitorganisatoren der Konferenz in Hinblick auf Überwachung und NSA-Skandal. Von politischer Seite sei im Grunde nichts unternommen worden, um die Situation zu verbessern. Im Gegenteil, so Beckedahls Kritik an der deutschen Regierung, würden nun immer mehr Details über die Zusammenarbeit zwischen NSA und Deutschland bekannt.

“Wir brauchen einen Ausstieg aus der Totalüberwachung”, lautet Beckedahls Appell. In dem Zusammenhang kritisiert er ein weiteres Mal die Vorratsdatenspeicherung und mögliche Pläne zu einer Neuauflage auf EU-Ebene. “Die Vorratsdatenspeicherung darf nicht mehr eingeführt werden, sie muss weg. In allen Ländern.” Wenig erfreut zeigt sich der engagierte Netzaktivist auch über Deutschlands Haltung zum Thema Netzneutralität. Die Regierung versuche hier eine Einschränkung im Sinne von großen Telekomunternehmen.

Wenig überraschend, dass auch EU-Kommissar Günther Oettinger, in dessen Ressort das Thema fällt, sich erneute Kritik zu seinen Positionen abholen darf. Zuletzt hatte ein futurezone-Interview mit Oettinger für Aufsehen gesorgt, in dem er unter anderem für eine Einschränkung der Netzneutralität sowie eine Neuauflage der Vorratsdatenspeicherung plädierte. “Es ist absurd, dass solche Politiker über unser Online-Leben bestimmen”, so Beckedahl.

Blauäugige Vorstellungen

Nüchtern fällt auch die Auftakt-Keynote zur diesjährigen re:publica aus. Ethan Zuckerman, Chef des Center for Civic Media am MIT, analysiert in seiner Rede die Politikverdrossenheit junger Generationen gegenüber einer gleichzeitig wachsenden Protestkultur, die allerdings kaum, so Zuckerman, in echten politischen Veränderungen mündet. “Das System ist kaputt”, attestiert Zuckerman, der sich besorgt darüber zeigt, wie wenig von großen Bewegungen wie #Occupy letztlich eigentlich übrig bleibt. Es sei falsch, jungen Menschen vorzuwerfen, sie würden sich nicht mehr für Politik, sondern nur noch für ihre Gadgets interessieren. Denn tatsächlich finden große politische Bewegungen statt, diese seien jedoch gleichzeitig in ihren Auswirkungen auf die reale Politik auch so schwach wie nie zuvor.

Das Problem sei, dass die Regierungen selbst, also jene Vertretern von denen sich die Menschen Veränderungen erhoffen, schwach seien. Im Hintergrund liege die tatsächliche Macht in Händen von Banken und der Finanzwirtschaft.

Das Internet biete zwar grundsätzlich unendliche Möglichkeiten für eine freie und offene Gesellschaft, dass das Internet allein die Welt auf magische Weise zu einem besseren Ort machen kann, sei jedoch eine falsche Vorstellung, so Zuckerman. Er erinnert sich dabei an die Neunziger Jahre und die Erwartungen und Hoffnungen, die man damals an das Netz hatte. “Wir glaubten daran, dass es keine dominierenden Großkonzerne, keine Zensur, ein Aufbrechen von Rassismus, Sexismus und anderen verknöcherten Strukturen geben würde”, so Zuckerman. “Wir haben wirklich jede Menge dummen Scheiß geglaubt”, fasst der Wissenschaftler die enttäuschten Erwartungen zusammen.

"Das Netz einverleibt"

Die größte Enttäuschung überhaupt macht Zuckerman darin fest, wie wenig das Internet die Politik verändert bzw. verbessert hat. Vielmehr hätten sich die Politiker der alten Generationen nach und nach das Netz einverleibt und sich für ihre Zwecke zunutze gemacht. Das vorherrschende Gefühl unter den Bürgern sei heute das Misstrauen - gegenüber Regierungen, Medien, NGOs usw. Dass man dieses Misstrauen einfach so wieder “beheben” kann, glaubt Zuckerman nicht. Er schlägt stattdessen vor, es umzuwandeln und als eine Art nützliches Tool zu gebrauchen. Man müsse alternative Wege der Veränderung finden - die könnten etwa darin liegen, die Überwachung mit Code, also Programmieren, zu bekämpfen. Andere Wege sieht Zuckerman aber auch in den Märkten - als Beispiel nennt er Teslas Bestrebungen, alternative Energiequellen zu etablieren - sowie in der Veränderungen von gesellschaftlichen Normen, also wie Menschen denken und fühlen.

Eine Möglichkeit sieht der Internetkritiker auch im “Monitoring”, Bürger sollten direkt bei der Politik nachfragen, was den eigentlich geleistet werde, und diese Daten sammeln. Außerdem plädiert er für dezentralisierte Netzwerke und betont, dass Transparenz alleine noch nicht genug sei. Man brauche nicht nur die Daten, sondern auch jene, die die Daten analysieren können, sie in Kontext setzen und auswerten.

Europa neu

Eine zentrale Frage der diesjährigen re:publica ist es nun, wie eine digitale Gesellschaft in der EU in Zukunft aussehen soll und kann. Wie kann sich Europa gegen die übermächtigen US-Konzerne behaupten, wie kann sich Europa in Fragen der Überwachung positionieren und wie kann die Freiheit Europas und die Freiheit des Netzes sichergestellt werden - darüber wird in Berlin diese Woche im Rahmen von 450 Session diskutiert und nach möglichen Antworten gesucht.

Die re:publica versammelt in diesem Jahr rund 6000 Besucher und 850 Speaker (mit einem Frauenanteil von 43 Prozent) aus 60 Ländern.

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Claudia Zettel

ClaudiaZettel

futurezone-Chefredakteurin, Feministin, Musik-Liebhaberin und Katzen-Verehrerin. Im Zweifel für den Zweifel.

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