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Fahrerassistenzsysteme: Wenn das Auto plötzlich ungewollt beschleunigt

Stellt euch vor, ihr sitzt in eurem neuen Auto, das einen intelligenten Geschwindigkeitsassistenten eingebaut hat. Plötzlich beginnt das Fahrzeug in einer 30er-Zone automatisch auf 70 km/h zu beschleunigen und ihr habt alle Hände voll zu tun, auf die Bremse zu steigen. Das kann in der Praxis durchaus passieren und ist schon zahlreichen Autofahrer*innen passiert, die sich auf das Assistenzsystem verlassen haben.

Der häufigste Grund für die plötzliche selbstständige Raserei seines Autos: Das System hat die Geschwindigkeitstafel nicht richtig lesen können, weil diese eingeschneit war oder Starkregen die Sicht des Systems stark eingeschränkt hat. Oder aber ihr seid von einer Straße auf eine andere abgebogen, und das System denkt fälschlicherweise, dass sie außerhalb des Ortsgebiets liegt.

„Für Fahrer*innen ist es natürlich sehr unangenehm, wenn das Auto plötzlich automatisch beschleunigt und ich das gar nicht will“, sagt Gerald Ostermayer, der sich an der FH Hagenberg mit Fahrzeugassistenzsystemen beschäftigt. Noch dazu, wenn es sich nicht immer um einen Fehler des Fahrzeugs handelt. Manchmal wissen Fahrer*innen einfach zu wenig über die Grenzen von Assistenzsystemen.

Fahrer*innen müssen immer aufmerksam bleiben, weil die Systeme nicht perfekt sind

Grenzen der Systeme kennen

Wenn es etwa stark regnet, oder schneit, kommt es bei fast allen Assistenzsystemen zu starken Einschränkungen. Das gilt für den Geschwindigkeitsassistenten genauso wie für Notbrems-, oder Spurhalteassistenten. Menschen können sich in gewissen Situationen nicht gleichermaßen auf die Systeme verlassen wie bei normalen Witterungsbedingungen. Die Bremswege sind länger als sonst, und die Tafeln und Spurmarkierungen sind für die Systeme oft nicht lesbar. „In manchen Situationen ist die Technik nicht zuverlässig genug“, sagt Ostermayer.

Diese Grenzen ihrer Systeme müssen Fahrer*innen kennen - tun sie aber sehr häufig nicht. Das belegt auch eine Studie des Automobilverbands FIA. Der Branchenverband hat über 9.000 Fahrer*innen aus sechs europäischen Ländern befragt und festgestellt, dass zwischen 70 und 99 Prozent der Fahrer*innen nicht verstehen, wie ihre Assistenzsysteme eigentlich ticken und wann diese was tun. Viele haben ein „Übervertrauen“ in die Systeme, und wurden auch zu keinem Zeitpunkt von Händler*innen oder Hersteller*innen geschult. Den meisten wurde lediglich ein Handbuch übergeben, doch auch darin fehlt etwas ganz Essentielles: Die Grenzen der Systeme.

Wissen gehört rein in die Fahrerausbildung

„Autolenker*innen müssen sich klar darüber sein, was ein System kann, und wo Einschränkungen liegen“, warnt Friedrich Eppel, ÖAMTC-Spezialist für automatisierte und vernetzte Mobilität. „Mangelhaftes Wissen führt nicht selten zu einer Überschätzung der tatsächlichen Leistung von Assistenzsystemen in Autos“, so der Spezialist. Daher sollte der Umgang mit Fahrerassistenzsystemen seiner Ansicht nach auch verpflichtend in die Führerscheinausbildung aufgenommen werden.

Zudem müsse alles, was ein System den Fahrer*innen anzeigt, intuitiv bedienbar sein. „Im Idealfall  würde ein System, das gerade aufgrund von Witterungsbedingungen nicht oder nur eingeschränkt funktioniert, seine Lenker*innen mit einer blinkenden Meldung warnen“, schlägt Eppel vor. Außerdem rät Eppel dazu, realistisch zu sein: „Wenn einem ein Hirsch 2 Meter vor dem Auto reinspringt, kann kein Bremssystem rechtzeitig stehen bleiben. Das geht technisch nicht“, so der Experte.

Neben dem intelligenten Geschwindigkeitsassistenten haben auch Spurhaltesysteme und Notbremsassistenten hin und wieder ein „Eigenleben“, wie Forscher*innen der TU Graz der futurezone erzählen. Bei den Spurhaltesystemen liegt das sehr oft an der Qualität der Bodenmarkierungen. Oftmals sei die reflektierende Schicht abgekratzt, erklärt Arno Eichberger vom Institut für Automotive Engineering an der TU Graz.

„Mangelhaftes Wissen führt nicht selten zu einer Überschätzung der tatsächlichen Leistung von Assistenzsystemen in Autos."

Friedrich Eppel | ÖAMTC

Unterschiedliche Bodenmarkierungen sorgen für Diskussionen

Außerdem würden die Fahrstreifenmarkierungen von Land zu Land unterschiedlich aussehen. „Deshalb gibt es aktuell Diskussionen, um Fahrstreifen zu harmonisieren, um sie für zukünftige Assistenzsysteme brauchbar zu machen“, so Eichberger. Denn Fahrzeughersteller*innen können ihre Systeme nicht in zig-Ländern erproben und so würden die Systeme mancherorts besser, mancherorts schlechter funktionieren.

Bei Notbremsassistenten hingegen wird seitens der Hersteller darauf geachtet, dass es wenige „false positives“ gibt. Das bedeutet in der Praxis, dass darauf geachtet wird, eher zu wenig Hindernisse zu erkennen, als zu viele. Denn ein Auto, das plötzlich bremst, obwohl rein gar nichts auf der Fahrbahn erkennbar ist, nur im Hintergrund weit entfernt ein Gegenstand aufblitzt, wird keinen Anklang bei den Lenker*innen finden. „Man nimmt damit in Kauf, dass manche unfallträchtigen Situationen nicht wahrgenommen werden und nicht zur Notbremsung führen in der Hoffnung, dass Menschen das im Zweifelsfall auch noch selbst schaffen“, erklärt Eichberger. Doch diese müssen das wissen - und dürfen sich nicht zu 100 Prozent auf die verbauten Assistenzsysteme verlassen.

Fahrzeuge lernen durch Training dazu

In der Vergangenheit haben vor allem Tunnels dafür gesorgt, dass die maschinelle Wahrnehmung der Fahrzeuge jede Menge Falschauslösungen produziert hat. „Das hat man so gelöst, dass man monatelang durch alle möglichen Tunnels in Europa durchgefahren ist, bis es kaum mehr zu Falschauslösungen gekommen ist. Mit dem Nachteil, dass Systeme so eingestellt sind, dass sie Relevantes bei so einem Szenario auch nicht mehr erkennen“, erklärt Eichberger weiter. „Ein Fehlerverhalten eines Fahrzeugs muss daher nicht automatisch unbedingt ein Fehler sein, sondern es kann auch eine Systemgrenze überschritten sein“, so der TU-Graz-Forscher.

Genau hier liegt das aktuelle Problem von Fahrerassistenzsystemen. „Es ist ein Trade-Off zwischen Robustheit und Sensibilität“, sagt Ostermayer von der FH Hagenberg. „Als Nutzer*in möchte ich mich auf ein System verlassen können. Das Problem ist aber, dass ich mit der Einführung eines Systems nicht so lange warten kann, bis es perfekt ist. Es werden immer wieder Situationen auftreten, die man im Labor nicht testen konnte“, so der Experte. „Wenn etwas nicht funktioniert, muss man es analysieren und verbessern. Das wird aber noch dauern. Das ist natürlich sehr unangenehm, weil es droht, das Vertrauen der Lenker*innen zu verlieren“, so Ostermayer.

Umso wichtiger ist es, dass die Assistenzsysteme auch standardisiert werden. „Alles, was ein System den Fahrer*innen anzeigt, sollte international über Hersteller*innengrenzen eindeutig sein. Es müssen technische Mindestanforderungen definiert und harmonisiert werden, ebenso muss festgelegt werden, was für Informationen Händler*innen ihren Kunden verpflichtend offenlegen müssen“, sagt ÖAMTC-Experte Eppel. Denn nur so können die Lenker*innen Grenzen besser verstehen und im Zweifelsfall richtig reagieren.

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Barbara Wimmer

shroombab

Preisgekrönte Journalistin, Autorin und Vortragende. Seit November 2010 bei der Kurier-Futurezone. Schreibt und spricht über Netzpolitik, Datenschutz, Algorithmen, Künstliche Intelligenz, Social Media, Digitales und alles, was (vermeintlich) smart ist.

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