Strom aus Luft gewinnen: Das steckt hinter der Revolution
An mehreren Orten weltweit wird an einer Technologie geforscht, die laut Wissenschaftler*innen die Versorgung der Menschheit mit erneuerbarer Energie revolutionieren könnte. Grundlage dafür ist die Erkenntnis, dass winzig kleine, mit freiem Auge nicht sichtbare Nanostrukturen mit geladenen Wassermolekülen interagieren können. Dadurch entsteht elektrische Spannung. Forscher*innenteams aus den USA und Europa sind ganz vorne dabei, was die Erweiterung des Wissensstandes zum Thema Hygroelektrizität (hygros: griechisch für nass, feucht) angeht.
Teslas Traum verwirklicht
Strom aus der Luft abzuzapfen klingt nach einer Idee, die bereits der erfinderische Elektroingenieur Nikola Tesla hatte. Er sah eine von elektrischer Energie erfüllte Luft und wollte sie nutzbar machen. Das Rezept dafür scheinen Wissenschaftler*innen nun rund 100 Jahre später gefunden zu haben. Sie konstruieren Nanoröhrchen, Nanopulver und Nanoporen, in denen Wassermoleküle eingefangen werden und ihre Ladungen abgeben. Wie sich gezeigt hat, ist alleine ihre Struktur dafür verantwortlich, dass dies geschieht. Das Material ist weniger ausschlaggebend.
Weil sich das sehr einfach anhört, ist Skepsis gegenüber Hygroelektrizität verbreitet. "Wir wurden als Freaks wahrgenommen, als Leute, die etwas komplett Unmögliches sagten", zitiert der Guardian Andriy Lyubchyk. Seine Mutter ist Svitlana Lyubchyk, eine in St. Petersburg geborene Chemie- und Nanotechnologieexpertin, die gemeinsam mit ihren Zwillingssöhnen Sergiy und Andriy in Portugal an dem Thema forscht. Die Familie ist federführend bei europäischen Forschungsprojekten zu Hygroelektrizität, die es seit 2015 gibt.
10 kWh pro Tag daheim erzeugen
Im Projekt HUNTER und seinem aktuell laufenden Nachfolger CATCHER wurden dünne, plattenförmige Zellen aus dem kristallinen Material Zirconiumoxid konstruiert. In ihrem porösen Inneren läuft der Spannungsaustausch mit der Umgebungsluft ab. Eine 8x5 Zentimeter große Zelle kann bei einer Luftfeuchtigkeit von 50 Prozent eine Spannung von 0,9 Volt erzeugen. Andriy Lyubchyk hält das Prinzip für skalierbar. Er plant, einen Prototyp einer etwa Waschmaschinen-großen Anlage zu konstruieren, in der Zirconiumoxid-Platten bis zu 10 Kilowattstunden Strom am Tag erzeugen sollen.
Die Lyubchyk-Zwillinge haben ein Unternehmen namens CascataChuva gegründet, weil sie überzeugt sind, dass mit Hygroelektrizität in Zukunft das 500-fache des aktuellen Energiebedarfs der Menschheit abgedeckt werden könnte. Nur Solarenergie habe als erneuerbare Energiequelle ein noch größeres Potenzial. Im Projekt CATCHER arbeiten sie mit mehreren anderen Unternehmen aus Europa zusammen, auch aus Österreich. Die Finanzierung übernimmt das Pathfinder-Programm des European Innovation Council der EU, das in radikal neue Technologien investiert.
US-Team setzt auf organisches Material
Das Tolle an der Stromgewinnung aus Luftfeuchtigkeit sei, dass sie jederzeit und überall auf der Welt verfügbar ist. Das schreibt ein Forscher*innenteam, das seit mehr als 5 Jahren unter der Leitung der University of Massachusetts Amherst das Thema Hygroelektrizität erforscht. Der Elektrotechniker Jun Yao und sein Team setzen auf organische Nanoröhrchen. Sie lassen die Strukturen durch das Bakterium Geobacter sulfurreducens erzeugen. Nachdem sie viele verschiedene Materialien ausprobiert haben, seien die Nanoröhrchen der Bakterien ihrer Erkenntnis nach am effizientesten bei der dauerhaften Erzeugung von Strom.
In einer 7 Mikrometer dicken Schicht, aufgetragen auf eine nur 25 Quadratmillimeter große Goldelektrode, konnten die Nanoröhrchen bei Experimenten 0,5 Volt erzeugen. Nach 20 Stunden Betrieb kam es zu einem Spannungsabfall auf 0,35 Volt. Eine 5-stündige Pause genügt, um die ursprüngliche Spannung wiederherzustellen. Mit 17 zusammengeschalteten derartigen Plättchen konnten 10 Volt produziert werden. Genug, um eine LED zu versorgen.
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Wie eine kleine Wolke
Gegenüber Physics World vergleich Jun Yao das Funktionsprinzip mit dem einer Gewitterwolke: "Die Wolke häuft positive und negative Ladungen an ihrer Ober- und Unterseite an. Ab einem gewissen Schwellenwert kommt es zu einer Entladung durch einen Blitz. Unser Gerät kann man sich wie eine kleine Wolke vorstellen, wobei eine Seite zur Luft hin offen ist, die andere geschlossen. Wassermoleküle aus der Luft stoßen auf die offene Oberfläche und erzeugen dort mehr Ladung als auf der anderen Seite. Dieser Ladungsunterschied baut eine Potenzialdifferenz auf, die die Abgabe eines Stromflusses antreibt."
Je nachdem, wie hoch die Luftfeuchtigkeit ist, gibt es Effizienzunterschiede. Der höchste Wirkungsgrad wurde bei rund 50 Prozent Luftfeuchtigkeit beobachtet. Besonders feuchte Luft, etwa in den Tropen, erhöht die Stromausbeute nicht. Hygroelektrische Generatoren können überall eingesetzt werden, im Freien wie in Innenräumen, bei kalten oder warmen Temperaturen.
Wieviel Strom für wieviel Geld
Dass Luftfeuchtigkeit jede Menge elektrischer Energie enthält, weiß man schon lange. Im Jahr 1840 soll ein Arbeiter in einer nordenglischen Kohlemine beim Bedienen einer Fördermaschine Funken zwischen deren Hebeln und seinen Fingern bemerkt haben. Ein kleines Leck hat die Dampfmaschine elektrisch aufgeladen. Der Techniker William Armstrong untersuchte den Vorfall, nach ihm wurde der Armstrong-Effekt benannt.
Zellen aus Nanostrukturen zu konstruieren, die nur ein Fünftel der Dicke eines menschlichen Haares aufweisen, ist erst seit einigen Jahren möglich. Ob die Entwicklung den Schlüssel zu einer nachhaltigen, klimafreundlichen Energieversorgung für die Menschheit darstellt, wird sich erst zeigen.
Photovoltaik, Wind- und Wasserkraft sind etablierte, gut verstandene erneuerbare Energiequellen. Auch in ihnen steckt das Potenzial, den Energiehunger der Menschheit mehr als abzudecken. Ob Hygroelektrizität künftig kommerziellen Erfolg haben wird, hänge davon ab, ob damit Strom für möglichst geringe Kosten produziert werden kann, wie die Energieexpertin Sarah Jordaan von der kanadischen McGill University der BBC berichtet.
Tragbare Sensoren und Innenraumkühlung
Hygroelektrizität steht noch ganz am Anfang. Über die grundlegenden Zusammenhänge, wie und warum man Strom aus Luftfeuchtigkeit beziehen kann, gilt es noch viel mehr herauszufinden. Es gibt aber schon konkrete Ideen, was man mit den Erkenntnissen anfangen kann. Tragbare Sensoren, die die Atemluft von Menschen analysieren und sich selbst mit Strom versorgen können, zählen dazu. Eine andere Idee verfolgt die Familie Lyubchyk in einem EU-Forschungsprojekt namens SSHARE: Ziel ist ein Heiz- und Kühlsystem für Innenräume, das ähnlich wie die Transpiration der Haut funktioniert und den notwendigen Strom dafür selbst erzeugt.