© CC BY SA 4.0, Wikimedia, Heike Huslage-Koch

Digital Life

"Ich würde nicht darauf wetten, dass wir in Zukunft Banken brauchen"

Nach 4,5 Milliarden Jahren biologischer Evolution auf der Erde stellt sich heute die Frage, ob die technische Entwicklung dem kohlenstoffbasierten Fortschritt den Rang abläuft. "Wir hatten fünf große Einschnitte in Form von Massensterben in der Geschichte. Jetzt stellt sich die Frage, ob der sechste Umbruch die Maschinen als künftige Gestalter des Lebens auf der Erde etabliert. Der technische Fortschritt beschleunigt sich und wir leben deshalb mittlerweile im Anthropozän, dem Zeitalter, in dem der Mensch den Globus formt. Das sieht man etwa daran, dass nur noch drei Prozent der Wirbeltiere nicht vom Menschen gehaltene Fauna sind", sagt Ranga Yogeshwar in seinem Vortrag "Mensch und Maschine - Wer programmiert wen?" auf der re:publica.

Yogeshwar hat als Physiker einst mit einem Cray XMP Großrechner einen Rechenleistungsrekord aufgestellt, mit 200 MFLOPS (Millionen Gleitkommaberechnungen pro Sekunde). Ein heutiger Durchschnitts-PC schafft etwa 22.000.000 MFLOPS. Dieser Fortschritt hat dazu geführt, dass auch ganz neue Dienstleistungen entstanden sind. "Uber und Co, die sogenannten Plattformen, gibt es, weil Smartphones das ermöglicht haben", sagt Yogeshwar. Diese Technologie verändert Prozesse und damit auch die Menschen. "Nimm alles was nervt weg, dann ist etwas disruptiv", sagt Yogeshwar.

Weniger Jobs

Der Siegeszug der Vernetzung, der von Smartphones getrieben wird, hat in nur zehn Jahren tiefe Spuren im Leben der Menschen hinterlassen. "Das Smartphone ist die Hostie einer neuen Kultur. Die Selfie-Mania ist ein globales Phänomen, das eine neue Grammatik entstehen lässt. Jugendliche auf der ganzen Welt schauen heute auf ihre Bildschirme, mit Ohrenstöpseln", sagt der ehemalige Physiker. Zudem sorge die Digitalisierung für eine Entmaterialisierung der Welt. "Dienste wie Spotify lassen die Grenzkosten kollabieren. Das heißt, dass viele Jobs entfallen werden. Es gibt einen Wandel vom Produkt zum Prozess", sagt Yogeshwar.

Heute könne jeder ein Produzent sein, alte Modelle mit hierarchischem Aufbau werden deshalb obsolet. "Die Forderung, dass es einen da oben gibt, der sagt wo es langgeht, ist tief verankert. Wir suchen nach Institutionen. Wenn wir Geld überweisen, gehen wir zur Bank. Ich würde aber nicht darauf wetten, dass wir in Zukunft noch Banken brauchen", sagt Yogeshwar. Die Abkehr von zentralen Autoritäten, befördert durch Technologien wie Blockchain, werde in vielen Bereichen schlagend. "Hier kehrt sich die Fließrichtung um. Heute twittert einer und die Medien kommen erst danach", sagt der Journalist.

Welt will keine Autos mehr

Entwicklungen wie Fake News seien eine Konsequenz dieser veränderten Topologie. Das erfordere allerdings, dass die Regeln überdacht werden müssen. "Die Gesellschaft darf sich nicht entmündigen lassen. Fakten bedeuten immer noch etwas, auch wenn soziale Medien oft ein Nährboden für Anderes sind. Das heißt nicht, dass sie schlecht sind, wir müssen nur den Umgang lernen", sagt Yogeshwar. In anderen Bereichen ändern sich die Voraussetzung durch den technischen Wandel genauso schnell, oft begleitet von großen Versprechungen der Unternehmen. "Selbstfahrende Autos sollen die Zahl der Todesfälle im Straßenverkehr um 600.000 pro Jahr halbieren. Sie werden die Autoindustrie trotzdem nicht retten. Die Welt will keine Autos mehr", sagt Yogeshwar.

Die deutsche Autoindustrie vergleicht der Physiker mit der Natureisindustrie im 19. Jahrhundert in den USA: "Natureis war damals der Nummer-1-Export der USA. Die Industrie sagte selbst als die ersten Kühlschränke kamen noch, sie mache genauso weiter. Solchen Leuten sollte man vielleicht nicht vertrauen, wenn es um Fortschritt geht." In Deutschland herrsche heute eine hochnäsige Sattheit, auch weil viele Menschen nicht glauben wollen, dass die Welt sich wirklich ändert.

Stasi 2.0

Fortschritte im Bereich künstliche Intelligenz haben dazu geführt, dass Maschinen Menschen heute nicht nur in Go schlagen, sondern auch Musik komponieren, die für Laien nicht mehr von menschengemachter zu unterscheiden ist. "Neuronale Netzwerke werden von Daten programmiert. Die Algorithmen sind aber Blackboxes, oft ist unklar, wie sie vom Input zum Ergebnis kommen. Das ist ein Problem. Wenn wir nicht wissen, warum wir eine Entscheidung treffen, haben wir am Ende ein Orakel. Aus demokratischer Sicht brauchen wir Rechenschaftspflicht", sagt Yogeshwar. Vor allem, wenn Algorithmen folgenreiche Entscheidungen treffen, wie etwa wer einen Kredit bekommt, ist das essenziell.

Um die Zukunft der Privatsphäre sorgt sich Yogeshwar auch: "Hätte man der Stasi erzählt, dass die Menschen freiwillig Kameras und Mikrofone in ihren Wohnungen installieren, hätte sie das wohl nicht geglaubt. Und wir lassen das zu." In Zukunft können Algorithmen anhand der Ton- und Bildaufnahmen feststellen, wie die Stimmung im Zuhause der Nutzer ist. "Es ist Zeit, vieles zu überdenken. Da geht es nicht nur um Amazon. Facebooks Umgang mit Daten ist eine Farce. Da geht es nicht nur um Werbung, sondern auch um politische Manipulation. Die Ignoranz der Politik, die das Zuckerberg-Hearing in den USA offenbart hat, hat mich beschämt", sagt Yogeshwar. In Ländern mit weniger demokratischer Verfassung seien die möglichen Konsequenzen noch drastischer.

Große Chance

Die Daten werden auch für die Medizin immer interessanter. Yogeshwar erzählt von Büchern, die ihre Leser mit Kameras analysieren, um Anzeichen für Parkinson zu erkennen. In der Pharmabranche erlaubt künstliche Intelligenz die virtuelle Überprüfung potenziell wirksamer Substanzen und in der Chemie versprechen Mikrolabore auf Chips eine Revolution. "Google, Amazon und Facebook investieren groß in Medizintechnik. Wir müssen uns fragen, ob wir wollen, dass ökonomische Gier diese Entwicklungen treibt und dass Versicherungen Kunden aufgrund der medizinischen Daten ablehnen", sagt Yogeshwar.

Innovation sei heute das, was eine kleine, weiße Minderheit für eine andere kleine, weiße Minderheit mache. Die Tech-Branche produziert Zeug, das eigentlich keiner braucht, spricht aber kaum über Menschen. "Wir haben immer noch große Armut und vielerorts mangelnde Hygienebedingungen auf der Welt. Wir sollten uns fragen, was wir für die Betroffenen tun können. Wir sind die erste Generation, die die Mittel hat, die Welt zu verändern. Das heißt, wir müssen Verantwortung übernehmen und Prioritäten setzen. Nicht nur anderswo. Auch bei uns stellt sich die Frage, wem der Fortschritt dient", sagt Yogeshwar. Die Demokratie sei heute vielerorts bedroht, das System könne auch kippen: "Wir haben erstmals in der Geschichte symmetrische Kommunikation, die gleiche Information steht allen zur Verfügung. Wir brauchen Haltung, um Fortschritt nicht nur für eine Minderheit zu ermöglichen."

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Markus Keßler

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