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© APA/AFP/ARUN SANKAR / ARUN SANKAR

Digital Life

Wie WhatsApp in Indien zur Plattform für Lynchjustiz wurde

Ein Video einer Überwachungskamera zeigt Kinder, die auf einer ruhigen Straße Cricket spielen. Zwei Männer fahren auf einem Motorrad vorbei. Plötzlich halten sie an, schnappen sich einen kleinen Jungen und fahren davon.

Videos wie dieses werden seit einigen Monaten vor allem über den Messenger in vielen Teilen Indiens verbreitet - verbunden mit der Warnung vor Fremden, die es auf Kinder abgesehen hätten, um sie zu töten und ihre Organe zu verkaufen. Das hat Dutzende Angriffe von Mobs auf vermeintliche Kindesentführer zur Folge gehabt. Mehr als 20 Menschen sind allein seit Mai in verschiedenen Bundesstaaten zu Tode geprügelt worden.

Keine Kindesentführung

Das Video zeigt allerdings in Wahrheit keine Kindesentführung in Indien. Es stammt vielmehr von einer pakistanischen Organisation, die damit vor Kindesentführungen in der Stadt Karachi warnt, und ist zwei Jahre alt. In der Version des gestellten Videos, die in Indien kursiert, fehlt das Ende: Die angeblichen Übeltäter bringen den Jungen zurück. Hinzu kommt, dass es in den Gegenden, wo die Lynchmorde passiert sind, laut Polizei zuletzt gar keine Kindesentführungen gegeben hat.

Die sogenannten WhatsApp-Gerüchte verursachen viele Diskussionen in Indien. Die Zeitschrift „India Today“ titelt „WhatsApp als Waffe“ mit einem Bild des zu einer Bombe entstellten Logos der App. Die Regierung fordert das US-Unternehmen auf, „sofortige Maßnahmen“ zu ergreifen. Der Oberste Gerichtshof verlangt von der Regierung ein Gesetz gegen die „Mobokratie“.

Kennzeichnung von Nachrichten

Mit mehr als 200 Millionen Nutzern ist Indien der größte Markt für WhatsApp, und die Facebook-Tochter bleibt nicht tatenlos: Sie führt unter anderem eine neue Funktion ein, mit der weitergeleitete Nachrichten als solche gekennzeichnet werden - zuerst in Indien, kurz darauf weltweit. Dann gibt WhatsApp bekannt, dass das Weiterleiten von Nachrichten testweise eingeschränkt wird - besonders in Indien, wo mehr geteilt werde als sonst irgendwo.

WhatsApp schaltet zudem in indischen Zeitungen eine ganzseitige Anzeige, in der es erklärt, wie man durch das sorgfältige Prüfen empfangener Nachrichten vermeiden kann, „Fake News“ auf den Leim zu gehen. „Zusammen können wir Falschinformationen bekämpfen“, lautet die Überschrift.

Aufklärung durch Polizei

Mancherorts versucht die Polizei, die Menschen aufzuklären. Etwa in der südindischen Metropole Hyderabad, wo der Vize-Polizeichef G. Sundeep erklärte: Den Leuten werde vermittelt, sie sollten die Polizei rufen, wenn sie jemanden Verdächtiges sähen, statt Selbstjustiz zu üben. Eine Truppe Polizisten sei durch die Dörfer gezogen und habe aufklärende Lieder über die Gerüchte gesungen. Man überwache auch viele WhatsApp-Gruppen.

Nach Lynchmorden im Mai an einer Transgender-Frau in Hyderabad und einem Mann in einem nahegelegenen Dorf hat es Dutzende Festnahmen gegeben - darunter auch zwei Menschen, denen vorgeworfen wird, für die Verbreitung der Nachrichten verantwortlich zu sein.
Die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung bei WhatsApp, durch die Inhalte nur für Absender und Empfänger im Klartext verfügbar sind, macht eine Rückverfolgung der Nachrichten auf ihre Urheber praktisch unmöglich. Zumal deren Motive unklar sind.

Die Aufklärungskampagnen in und um Hyderabad sind laut Sundeep nun größtenteils vorbei. „Hier in der Gegend wird nichts mehr passieren, denn wir haben die Leute aufgeklärt“, sagte er am 13. Juli.

Noch am selben Tag passiert es doch wieder - etwa 150 Kilometer von Hyderabad entfernt. Ein Softwareentwickler ist mit vier Freunden nach einem Ausflug auf dem Rückweg in die Stadt. Unterwegs halten sie in einem Dorf an, der 32-Jährige verteilt Schokolade an Kinder. Die Dorfbewohner werden argwöhnisch und bedrängen die fünf Männer.

Es sind viele

Diese fliehen, per WhatsApp geben die Dorfbewohner den Menschen im Nachbarort Bescheid, und diese halten das Auto der Fremden an. Berichten zufolge versammelt sich ein etwa 2000-köpfiger Mob. Ein Video zeigt, wie der Softwareentwickler durch den Dreck geschleift wird, bevor ihn unzählige Menschen mit Steinen und Stöcken töten. Zu sehen ist auch, wie ein Polizist den Mob anfleht, aufzuhören.

Die bisherigen Maßnahmen von WhatsApp reichten nicht aus, teilt das indische IT-Ministerium vergangenen Donnerstag mit. Es warnt, der Konzern könne als „Anstifter“ juristisch zur Verantwortung gezogen werden, wenn er nicht mehr unternehme, um aufrührerische Nachrichten rückverfolgbar zu machen.

Das könnte Fragen zum Schutz der Privatsphäre aufwerfen. Außerdem sieht nicht jeder nur den Messenger in der Pflicht. „Was wirklich einen Unterschied machen würde, wäre, wenn die Regierung, Medien und Social-Media-Plattformen zusammen eine landesweite Aufklärungskampagne starten würden“, sagte Pratik Sinha, Gründer der Verifikations-Website „AltNews“.

Mehr Internetnutzer

Smartphones und mobile Daten sind in den vergangenen Jahren in Indien viel günstiger geworden, die Zahl der Internetnutzer ist dramatisch gestiegen - obgleich sie immer noch nur bei rund 35 Prozent der Bevölkerung liegt.

„Mangelnde Internet-Kompetenz ist der Hauptgrund, warum die Leute für die Gerüchte so anfällig sind“, sagte Sinha. Für viele neue Internetnutzer, vor allem auf dem Land, sei WhatsApp die Hauptinformationsquelle. Sie verstünden nicht, dass man weitergeleitete Nachrichten mit Skepsis lesen müsse.

Aufrufe gegen Fremde


Nach Ansicht des Soziologen Shiv Visvanathan ist es kein Zufall, dass sich die Gerüchte und die Gewalt gegen Fremde richten. Lynchjustiz, die es schon lange vor den WhatsApp-Gerüchten gegeben habe, treffe in Indien vor allem religiöse Minderheiten und Migranten.

Veränderungen in der Gesellschaft führten zu Angst vor Fremden, die von der hindu-nationalistischen Regierungspartei BJP geschürt und ausgenutzt werde. „Die urzeitlichsten Ängste, die primitivsten Sorgen und die brutalste physische Gewalt, gekoppelt mit technologischer Raffinesse - das ist beängstigend“, sagte Visvanathan.

„Technologie ist, was wir daraus machen“, schrieb der Journalist Mihir Sharma in einer „Bloomberg“-Kolumne. „Wenn wir in Indien uns entscheiden, einen nützlichen Messenger zu nutzen, um Lynchmobs zu bilden, sagt uns das mehr über Indien als über WhatsApp.“

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