Pilotin einer A-10

Pilotin einer A-10

© US Air Force

Meinung

Sogar die US Air Force weiß: Normal sein ist nicht normal

Damals undenkbar, heute normal: Pilotinnen für Kampfflugzeuge. Auch sie profitieren von flexiblen Cockpits

Die US Air Force hatte ein ernstes Problem: In den späten 1940er-Jahren kam es immer wieder zu folgenschweren Unfällen. Die Flugzeuge selbst wurden zwar technisch immer besser, aber sie wurden auch schneller und schwieriger zu steuern. Pilotenfehler konnten rasch zu einer Katastrophe führen.

Lag es möglicherweise daran, dass man die Cockpits falsch eingerichtet hatte? Seit den 1920er-Jahren war die Cockpitgröße gleich geblieben. Waren die Piloten seither vielleicht im Durchschnitt größer geworden und hatten deshalb häufiger Probleme mit der Bedienung des Flugzeugs? Die US Air Force wollte das damals wissenschaftlich klären: Man beschloss, die Körpermaße von über 4.000 Piloten exakt zu ermitteln.

Selbstverständlich handelte es sich dabei ausschließlich um Männer – dass Frauen genauso gut fliegen können, wäre damals wohl noch als radikale, verrückte Idee gesehen worden. Über 100 Messungen wurden an jedem Piloten durchgeführt, von der Körpergröße bis zur Daumenlänge, vom Hüftumfang bis zum Abstand zwischen Auge und Ohr. Mit dem Ergebnis wollte man das ideale Cockpit entwickeln, perfekt maßgeschneidert für den perfekt durchschnittlichen Kampfpiloten.

Charles E. Yeager

Ergonomie schaut anders aus: Charles E. Yeager im Cockpit der experimentellen Bell X-1. Mit ihr wurde er 1947 der erste Mensch, der Überschallgeschwindigkeit flog

Die große Entdeckung von Gilbert Daniels

Unter den Leuten, die damals diese Messungen durchführten und die Daten statistisch untersuchten, war auch der junge Anthropologe Gilbert Daniels. Mit Kampfflugzeugen hatte er eigentlich nichts zu tun, er interessierte sich eher für Gartenarbeit und Botanik. Aber er hatte Erfahrung mit biologischen Daten und stellte sich die wichtige Frage: Wie viele der Kampfpiloten kann man nun tatsächlich als „durchschnittlich“ bezeichnen?

Gilbert Daniels wählte 10 besonders wichtige Parameter aus. Als „durchschnittlich“ ließ er alle Werte durchgehen, die zu den mittleren 30 Prozent gehörten. So konnte er genau herausfinden, wie viele der über 4.000 Piloten bei all diesen 10 Parametern immer im durchschnittlichen Bereich lagen. Die Antwort war erstaunlich: Es war kein einziger. Den durchschnittlichen Piloten gibt es nicht.

Beim einen sind die Arme ungewöhnlich lang, beim anderen die Beine ungewöhnlich kurz, der eine hat einen großen Kopf, der andere schmale Hüften. Irgendetwas Außergewöhnliches findet sich immer. Bei jedem Parameter gibt es einen Normalbereich – aber bei all diesen Parametern normal zu sein, wäre höchst abnormal.

Für die US Air Force war das ein überraschendes, aber sehr wichtiges Ergebnis. Man erkannte: Wenn man das Flugzeugcockpit so konstruiert, dass es dem durchschnittlichen Piloten passt, dann passt es niemandem. So entschied man sich stattdessen für die Strategie, das Cockpit flexibel zu gestalten: Man braucht höhenverstellbare Sitze und anpassbare Geräte. Zum Glück hat sich diese Sichtweise letztlich auch in vielen anderen Bereichen durchgesetzt – vom verstellbaren Sicherheitsgurt im Auto bis zum anpassbaren Fahrradhelm.

Auch wir sind nicht normal

Doch Gilbert Daniels Erkenntnis trifft nicht nur auf Körpermaße zu, sondern auf alle unsere Eigenschaften: Niemand von uns ist normal. Oder anders gesagt: Eine Abweichung von der Norm ist völlig normal. Das ist uns oft nicht bewusst. So betrachtet man es zum Beispiel gerne als normal, gesund zu sein. Dabei ist es völlig normal, irgendwelche Gesundheitsprobleme zu haben: Der eine hat ein kaputtes Knie, die andere eine seltsame Lebensmittelunverträglichkeit, manche Leute haben nur eine funktionsfähige Niere, andere chronisch hohen Blutdruck.

Aus demselben Grund ist es problematisch, von einem „normalen“ Lebenskonzept zu sprechen, unter dem man sich vielleicht ein Häuschen mit Garten, eine heterosexuelle Ehe, zwei Kinder und einen Hund vorstellt. Klar ist das normal. Aber es ist sehr normal, von dieser Normalität abzuweichen. Es gibt unzählige Gründe dafür – und das statistisch gesehen führt das eben normalerweise dazu, dass man normalerweise nicht ganz normal ist. Genauso wie uns die Statistik zeigt, dass man die Cockpits von Kampfflugzeugen nicht einfach auf den durchschnittlichen Piloten auslegen kann, sagt sie uns auch, dass wir unser Gesellschaftssystem nicht auf durchschnittlich normale Leute ausrichten kann. Denn niemand ist ganz normal. Und das ist vermutlich auch gut so.

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Florian Aigner

Florian Aigner ist Physiker und Wissenschaftserklärer. Er beschäftigt sich nicht nur mit spannenden Themen der Naturwissenschaft, sondern oft auch mit Esoterik und Aberglauben, die sich so gerne als Wissenschaft tarnen. Über Wissenschaft, Blödsinn und den Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen, schreibt er regelmäßig auf futurezone.at und in der Tageszeitung KURIER.

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