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Peter Glaser: Zukunftsreich

Bitwohnen

Mensch und Material werden zunehmend mobil. In der Architektur schwindet der ehemals fundamentale Grundbegriff der Immobilie - des Festgefügten, Unbewegbaren. In der digitalen Welt braucht ein Architekt keine Rücksicht mehr auf Statik oder Naturgesetze zu nehmen. Was bisher Materialschwere war, wird nun von einer unirdischen Ideenleichtigkeit beflügelt.

Die alte Wirklichkeit versucht, sich der Wendigkeit von Software anzupassen
Aber auch im natürlichen, der Gravitation verpflichteten Raum sind die Dinge in Bewegung geraten. Mobiliar wird zunehmend flexibel und modular. Immer mehr Einrichtungsgegenstände stehen auf Rollen, sind faltbar, multifunktional. Die alte Wirklichkeit versucht, sich der Wendigkeit und Formbarkeit von Software anzupassen. Veränderte Sozialstrukturen haben neue Räumlichkeiten für den Alleinlebenden, die Patchwork-Familie, den Home Office-Nutzer hervorgebracht. Mit der Virtualität ist nun eine ganz eigene Raumdimension auf den Plan getreten, die auch für die Architektur neue, abenteuerliche Möglichkeiten und Herausforderungen bereithält.

Als in den achtziger Jahren CAD-Software als mächtiges Entwurfswerkzeug aufkam, klagten Architekten noch manchmal über die illusionäre Hinterglasreinheit des elektronischen Transparentpapiers. Sie führte gelegentlich dazu, dass an falscher Stelle in einen Plan gezeichnete - also im unerwünschten Sinn „computergestützte“ - Teile kaum noch auszumachen waren. Längst hat sich die Software als virtuoses Instrumentarium in die Hände der Baukünstler gefügt. Architekturen in organischen, hochkomplexen und kühnen Strukturen entstanden, deren Ausführung ohne die digitalen Mittel zuvor nicht denkbar gewesen wäre.

Körper können sich nicht mehr verletzen, nur noch ein Spiel verlieren

Immer mehr Menschen empfinden nun die neuen Areale der Datensphäre als Teil ihres Lebensraums. Hier verwandeln sich inzwischen die vormals falsch gesetzten Elemente in absichtsvolle, kreative Experimente. In der digitalen Welt stellt es kein Problem mehr dar, wenn eine Tür im neunten Stockwerk hinaus ins Nichts führt. Zwar gibt es auch Körper in dieser Welt, aber sie können sich nicht mehr physisch verletzen - sie können nur noch ein Spiel verlieren, und wenn es zu Ende ist, ein neues Spiel beginnen.

Eine neue Generation von Architekten macht sich auf, die mit den verschlungenen und verrückten Verhältnissen, der Ästhetik und den schöpferischen Potentialen von E-Games aufgewachsen sind. Sie sind groß geworden mit Meilensteinen der Computerspielindustrie - der Suche nach der Zeitmaschine auf der fantastischen Insel Myst, die zur selben Zeit aus dem Datenozean auftauchte wie das Internet, der Weltsimulation SimCity oder den futuristischen Szenarios in Nomad Soul oder Half Life. Herkömmliche Videospiele setzten in der Architektur auf das Spektakuläre, Exotische und einen Hauch von Endzeit. Für Kids sind Videospiel-Szenarios heute die Nachfolger von Disneyland und Themenparks.

Im Virtuellen eröffnen sich Welten weit jenseits der alten Realität
Computerspiele ahmen nicht mehr die Welt nach, sondern es hat eine Umkehr stattgefunden”, schreibt etwa der Linzer Konzeptkünstler und Architekt Stephan Doesinger. Und in der Erzählung “Das Monument” des texanischen Science Fiction-Autors Bruce Sterling sagt ein Vorreiter virtueller Architektur: „Die Leute wollen nicht mehr in „Gebäuden“ leben – sie wollen in Konstruktionsprogrammen leben.”

Von umgekehrter Eleganz sind die analogen „Rückholaktionen” des Berliner Künstlers Aram Bartholl. In seiner Installation „de_dust“ stapelte er mit einer Pixeltextur beklebte Holzkisten, wie sie in Videospielen wie Counterstrikte zur Raumverkomplizierung zahlreich herumstehen, mit dem Einverständnis der Verkehrsbetriebe im Schacht einer Berliner U-Bahn-Station. In einer anderen Aktion baute er aus Holz und Leinwand drei Meter groß eines der roten, sprechblasenförmigen Markierungssymbole aus Google Maps nach und stellte sich gelegentlich zur Verblüffung von Menschen, die das Zeichen nur vom Bildschirm kennen, auf Straßen oder Wiesen.

Schatten über der neuen Welt
Aber nicht nur neue Vorteile und Vergnüglichkeiten der alten Welt finden sich modernisiert im Datenraum wieder. Die niederländische Polizei beendete vor einiger Zeit eine Serie von Möbeldiebstählen in der beliebten 3D-Welt Habbo Hotel. Ein 17-jähriger wurde festgenommen, fünf weitere Kids verhört. Für hübsche Möbel bezahlen Habbo Hotel-Bewohner echtes Geld – die lieben Kleinen hatten mit Tricks virtuelle Stühle und Sofas im Wert von etwa 4000 Euro gestohlen.

Peter Glaser Zukunftsreich

Peter Glaser, 1957 als Bleistift in Graz geboren, wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Lebt als Schreibprogramm in Berlin und begleitet seit 30 Jahren die Entwicklung der digitalen Welt. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs, Träger des Ingeborg Bachmann-Preises und Blogger. Für die futurezone schreibt er jeden Samstag eine Kolumne.

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